Existenzrecht für eine Ethnokratie?

Delf Bucher

Ein sicherer Hafen für die Shoah, das war nach dem Zweiten Weltkrieg eine Selbstverständlichkeit. Und das deutsche Tätervolk strengte sich dann in verschiedenen Etappen an, diesem Staat die grösstmöglichste Solidarität zukommen zu lassen, bis die Beziehung zu Israel zu einer Staatsdoktrin geronnen war. Unumstösslich und vor allem nicht hinterfragbar. Das Existenzrecht Israels soll keineswegs in Frage gestellt werden. Aber hier gilt es aus deutscher Sicht zu bedenken: Ohne Shoa keinen Teilungsplan der Uno, der alle Massstäbe einer gerechten Landverteilung zwischen arabischer und jüdischer Bevölkerung ignorierte. Im deutschen Kontext ist immer mitzubedenken, dass auf die PalästinenserInnen eine deutsche Schuld abgewälzt wurde.

Demokratiepolitisch betrachtet sollte nicht vergessen werden, dass eine auf eine Ethnie abgestützte Staatskonstruktion immer in der Gefahr steht zur einer Ethnokratie zu verkommen und den Schutz der Minderheiten missachtet.

Mythos I: Kein David gegen Goliath

Ein mythologisches Bild beherrscht den deutschen Diskurs – die Geschichte von David und Goliath, der sich nun viele tausend Jahre später in der feindlichen Gegenüberstellung des militärisch hochgerüstete arabischen Nachbars mit dem kleinen jüdischen Volk wiederholt. Die Ereignisse vor und nach dem Teilungsbeschluss der Uno 1947 werden immer so dargestellt, dass die aggressiven arabischen Nationen die friedliche Diplomatie der neu gegründeten Uno kriegerisch ausser Kraft setzen wollte. Dass die sechs arabischen Nationen, die Israel den Krieg erklärten, keineswegs Kräfte eines Goliaths entwickelten, liegt schon daran, dass sie mit territorialen Einzelinteressen ganz unterschiedliche Ziele verfolgten und sich gegenseitig bekämpften. Und die jüdische Streitmacht war eine gut ausgebildete Truppe, von denen sich 20.000 als Kriegsfreiwillige in der britischen Armee das Rüstzeug fürs Kriegshandwerk geholt hatten.

Mythos II: «Land ohne Volk, Volk ohne Land»

Die berühmt-berüchtigte Formel «ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land», legt nahe, dass die jüdische Heimstatt in einer menschenleerer Einöde stattfinden sollte. Es war eine Propagandaformel, die leicht mit Kataster-Einträgen und Luftbildern entkräftet werden kann. Auch die Vielzahl der aufgeführten Konflikte in dem 1939 veröffentlichten White Papers der britischen Kolonialverwaltung zeigen, wie schon früh eine mit Geld ausgestattete jüdische Einwandererschicht mit der ansässigen arabischen Bevölkerung g in Konkurrenz geriet. Es ging in dem Paper auch um Demographie und damit um die verhängnisvolle restriktive Einwandererquoten der britischen Kolonialadministration just während des Zweiten Weltkriegs, die jüdisches Leben retten hätte können. Die Uno selber gibt freimütig in ihren Papieren zum Teilungsplan die asymmetrische Aufteilung zu: Nur 43 Prozent des Landes war für die 1,3 Mio. arabischen Menschen vorgesehen, dagegen 56 Prozent für die 600.000 Jüdinnen und Juden vorgesehen.

Die Entsorgung des westlichen Antisemitismus

Die Tragik des Holocaust ist neben der genozidalen Vernichtungsidee des deutschen Nationalsozialismus eng verknüpft mit der Konferenz von Evian am Genfersee 1938. Da hiess es von den 32 teilnehmenden Staaten unisono: Verfolgte Juden aufnehmen? Nicht bei uns. Auch nach der Shoah blieb es dabei: Die Jüdinnen und Juden sollten weiterziehen ins neu gegründete Israel. Die meisten Überlebenden wollten indes 1945 vor allem in den USA, aber auch in europäischen Ländern eine Existenz aufbauen. Ben Gurion sprach deshalb von dem Albtraum, «dass die überlebenden Juden nicht nach Erez Israel würden gehen wollen.» Die verschlossenen Tore von den westlichen Aufnahmeländern kamen ihm zupass. Dass die rigorose Beschränkungen für die jüdische Migration von antisemitischen Motiven geleitet war, störte dabei Gurion kaum. Wenn wir heute von Kontext sprechen wollen, sollten wir den eigenen Antisemitismus in Europa und USA mitreflektieren.

Der Irrtum des Postkolonialismus

Kaum an einem Ort verflechten sich Kolonialgeschichte, Heilsgeschichte, der «Clash of civilisation» intensiver als in Palästina. Während des Ersten Weltkriegs – den Zerfall des Osmanischen Reiches vor Augen – warf das britische Imperium sein begehrliches Auge auf den Nahen Osten und griff in den kolonialistischen Werkzeugkasten nach dem Tool „Teile und herrsche». Die Briten versprachen den arabischen Clans der Sauds und der Haschemiten neue Staatengründungen und gleichzeitig der jüdischen Diaspora eine Heimstatt in Palästina. Letztere erhielten – völkerrechtlich umstritten mit der Balfourdeklaration ihre Gründungsurkunde – wohlgemerkt für eine Heimstatt, nicht für einen Staat. Kolonialismus steht also an der Wiege und trotzdem sollte klar sein: Im Gegensatz zu den europäischen SiedlerInnen-Bewegungen bestand ein über die Jahrtausende aufrecht erhaltener Bezugspunkt zu Erez Israel, das so mannigfach in Gebeten angerufen wurde. Kleine jüdische Gemeinschaften sind durch die ganze Geschichte hindurch auf dem Gebiet Palästinas nachgewiesen.

Gerade bei der jüdischen Migration nach Palästina sollte immer mitbedacht werden, wieweit dort das rassistische Stereotyp vom raffenden Wucherer, vom jüdischen Untermenschen hineinspielt. Die Vision von Theodor Herzls Judenstaat war also immer eine Reaktion auf die dominant fremdenfeindlichen Ideologie Europas und Nordamerika.
Hier gilt es einzuhaken: Auch die scheinbar alles erklärende Figur vom «alten, weissen Mann» übersieht Grundsätzliches: Die arabische Staaten traten genauso als Besatzer gegenüber dem palästinensischen Volk auf wie Israel. Bis 1967 besetzte Jordanien die Westbank als Vasallengebiet wie die Ägypter die Oberherrschaft über den Gazastreifen ausübten.

Eine neue Erinnerungspolitik

Für uns als Historiker ist der deutsch-amerikanische Omri Boehm besonders interessant: Er tritt für eine neue Erinnerungspolitik ein, in der sich die Israelis die Nakba vergegenwärtigen, welche bei der Staatsgründung Israels den Rahmen für einen ethnischen Staat lieferte. Die Vertreibung der Palästinenser war Voraussetzung für eine jüdische Mehrheitsgesellschaft und der Holocaust die Rechtfertigung dafür. Mittlerweile zum Staatsmythos geronnen befördert das innerisraelische Erinnern an den millionenfachen Massenmord eine verengende Identitätspolitik. Auf der palästinensischen Seite wiederum dasselbe. Hier sieht man sich vor allem als Opfer der Juden und will den düsteren Hintergrund des Holocaust nicht wahrhaben. Wie Nakba und Holocaust aufeinander bezogen sind, ist für Böhm wichtig, um zu einer politischen Lösung zu kommen, die er nicht in einer Zweistaatenlösung sieht, sondern in einem gemeinsamen Staatswesens.

  • Christina Herbert-Fischer

    22.10.2024, 20:10

    Ich habe viele Fragen, ich beginne heute mal zu dem Abschnitt „Der Irrtum des Postkolonialismus“. Ich bin davon ausgegangen, trotz aller machtpolitischen Interessen, dass die Briten das Protektorat über den Völkerbund erhalten hatten nach dem Verfall des Osmanischen Reiches. Auch war ich davon ausgegangen, dass sie die Aufgabe hatten, eine Zweistaatenlösung für Palästina zu verfolgen. Ob sie das wirklich ernsthaft taten, sei dahin gestellt. Was ich aber bisher dazu gelesen hatte war, dass die Führer der arabischen Bevölkerung der Levante diese Zweistaatenlösung abgelehnt hatte, worauf die Gründung des israelischen Staates erfolgte. Das ist jetzt verkürzt dargestellt. Ich bin nun Laie, ich würde gern mehr dazu erfahren. Wo liege ich völlig falsch? Ich bekomme das einfach mit diesem Abschnitt nicht in Einklang. Das soll keine Kritik sein, ich bin wirklich interessiert.

    Auf Christina Herbert-Fischer antworten Abbrechen

    Ihr Kommentar wird nach Freigabe veröffentlicht

  • Ihr Kommentar wird nach Freigabe veröffentlicht