Zeitenwende – Editorial
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat dieser Begriff bei uns Konjunktur. Im genannten Kontext steht er für ein verändertes sicherheitspolitisches Bewusstsein, das militärische Aufrüstung zum Gebot der Stunde und die Stärkung von Deutschlands Wehrhaftigkeit zum zentralen Regierungsanliegen erklärt hat. Denn – so heißt es allerorten – es sei ja erstmals seit 1945 wieder Krieg in Europa.
Ganz so, als hätte es in den 90er Jahren keine Balkankriege gegeben. Dabei können die, bei genauerer Betrachtung, sogar als role model für den aktuellen Krieg gesehen werden. Handelt es sich bei dem, was wir heute erleben, also noch immer um die Nachwehen einer anderen Zeitenwende, nämlich der von 1989?
Der gesellschaftliche Umbruch damals war freilich grundsätzlich anderer Natur. Einer von zwei globalen Machtblöcken musste 1989 die Waffen strecken und wir, die wir auf der Gewinnerseite waren, hielten dies für eine Wende hin zu besseren, vor allem zu friedlicheren Zeiten. Daran haben auch die Jugoslawienkriege wenig ändern können, in der Siegesgewissheit der Nachwendezeit schienen sie für uns weiter weg zu sein als heute die Kampfhandlungen in der Ukraine. Ein Bruderkrieg, wie er in den besten Familien vorkommt, für Außenstehende jedoch schwer nachvollziehbar – so dachten wir damals.
Heute dagegen dreht sich das Rad der Zeit in entgegengesetzter Richtung und mit dem Begriff Zeitenwende verbinden viele die Erkenntnis, dass der Krieg womöglich auch hierzulande nicht der Vergangenheit angehört, dass er, ganz im Gegenteil, auch unsere Alltagsrealität wieder erschüttern könnte – ein bislang schlichtweg undenkbarer Gedanke. Und so sind wir im Februar 2022 von heute auf morgen in einer veränderten, einer bedrohlicheren Welt aufgewacht.
Aber vielleicht ist es auch ganz anders gewesen. Vielleicht hat sich unser Leben doch nicht so abrupt zum Schlechteren gewendet, sind wir nicht ganz so plötzlich aus allen Wolken gefallen, sozusagen vom Himmel herab auf den harten Boden der Realität. Denn die Krisen, mit denen wir in der Gegenwart zu kämpfen haben, sind vielfältiger Natur und sie bedrohen uns von allen Seiten. Es geht nicht nur um Krieg und Frieden, auch unser Wohlstand steht auf dem Spiel, unsere demokratischen Freiheiten, unser Zusammenleben in einer bunten und pluralistischen Gesellschaft, ja, sogar unser Überleben als Menschheit ist gefährdet durch eine immer lebensfeindlichere Umwelt, deren Zerstörung auf unser eigenes Konto geht. Und diese Gefahren sind nicht plötzlich aus dem Nirgendwo aufgetaucht, sie haben sich langsam und vor unser aller Augen angebahnt, sie sind, unter Anderem, auch das Ergebnis jahrzehntelangen Wegsehens und Verdrängens.
Umso wichtiger scheint es uns, in der derzeitigen krisenhaften Situation genau hinzusehen, die Komplexität der Lage anzuerkennen und einen angemessenen Umgang damit zu finden – ein Anliegen, das zur Entstehung dieses Blogs geführt hat. Für uns ein Forum zur engagierten und ergebnisoffenen Auseinandersetzung mit den brennenden Fragen der Zeit, mitunter kontrovers, immer aber konstruktiv geführt. Und in einer gesellschaftlichen Atmosphäre der allgemeinen Verunsicherung ein Orientierungsangebot.
Wer sind wir?
Wir haben uns im Sommer 2024 zusammengetan, um einen Internet-Blog zu gründen.
Zwischen Einzelnen von uns bestanden zuvor schon, teilweise langjährige, freundschaftliche oder kollegiale Beziehungen. Unser geographischer Mittelpunkt ist die Stadt Konstanz. In dieser Stadt haben einige von uns studiert, in dieser Stadt haben alle gelebt oder gearbeitet, einige leben oder arbeiten noch dort.
Gemeinsam ist uns das Interesse an den aktuellen politischen und kulturellen Entwicklungen, sei es auf kommunaler, nationaler, europäischer oder globaler Ebene.
Zusammengeführt hat uns der Konstanzer Historiker und Dozent Ernst Köhler. Für einige von uns war er akademischer Lehrer, mit Vielen von uns steht er seit Jahren in einem regen Gedankenaustausch.
Wir wollen beschreiben und festhalten, was uns in diesen Zeiten bewegt, welche Veränderungen wir beobachten, welche unserer Gewissheiten in Frage gestellt werden, welche Hoffnungen wir haben. Das Format des Blogs intendiert, öffentliche Diskussion zuzulassen.
Unsere Beiträge sind in der Form offen: Bericht, Reportage, Kommentar, Glosse, Essay, Rezension, Marginalie, Tagebucheintrag, die große Übersicht und die kleine Randbemerkung, sachlich-objektiv oder persönlich-subjektiv. Eine Redaktion gibt es nicht, gesteuert wird das Projekt von der gesamten Gruppe.
Wir hoffen auf Ihr/Euer Interesse!
Delf Bucher
Peter Conzelmann
Ulrike Endres
Ernst Köhler
Andreas Meyer
Michael Moller
Hilde Schneider
(in alphabetic order)