Die israelische Partei Gottes
Am Freitag, 27. September, polterte der israelische Ministerpräsident im typischen Netanyahu-Stil: Die Uno und alle mit ihr verbundenen Gerichtsbarkeiten seien „ein antisemitischer Sumpf“. Israel, der tapfere David, kämpft für die westliche Welt gegen den Terrorismus, kämpft für das Licht und gegen die finsteren Mächte wie dem Iran.
Bald zeigte sich: Es sind keine leeren Worte. Kurz vor der Rede hat Netanyahu den Angriff gegen den Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah befohlen. Die geheime Botschaft, übermittelt mit einem abhörsicheren Telefon, wird bereits wenige Minuten später rhetorisch vor der Weltöffentlichkeit in der UNO gerechtfertigt. Wie die Hamas muss auch die Hisbollah, die gefährlichste Terrororganisation der Welt, besiegt werden.
Keine Trauer um Nasrallah
Wenige Stunden später wissen die Diplomatinnen und Botschafter: Ihr Bemühen um einen Waffenstillstand war vergebens. Hassan Nasrallah ist tot. Mitgefühl will sich bei den informierten Beobachtern nicht einstellen. Die Terrorliste der von Nasrallah geführten Hisbollah-Miliz ist zu lang: Mutmassliche Morde an libanesischen Politikern gehen auf ihr Konto, die militärische Rettung des syrischen Diktators Bashar-al-Assad, das Niederschlagen der libanesischen Demokratiebewegung, der Aufbau der irakisch-schiitischen Milizen, die sich heute in den Dörfern der jesidischen und christlichen Minderheiten in der Ninive-Ebene festgesetzt haben. Und nicht zu vergessen der permanente Beschuss Nordisraels mit Raketen, die oft in palästinensische Dörfer einschlagen.
Ein „Pyrrhus-Attentat“
Legitim mag die Tötung sein. Aber war es der richtige Zeitpunkt? Hat Netanyahu mit seiner von New York aus ausgelösten Liquidierung des Hisbollah-Chefs nicht eines billigend in Kauf genommen: Tod Tausender Zivilisten, Tod der noch lebenden Geisel in Gaza und den Tod der Diplomatie?
Nach Berichten der New York Times standen die Verhandlungen für ein Waffenstillstandsabkommen zwischen Israel und der Hisbollah kurz vor dem Durchbruch, so wie man zuvor unzählige solcher Abkommen mit der Hamas bereits unter Dach und Fach wähnte. Auch dieses Mal blieb es beim eingespielten Muster: Zuerst die Zusage des Netanyahu-Büros, in Grundzügen einem Abkommen mit der Hisbollah zuzustimmen. Wenig später wird indes die Eskalationsspirale auf Hochtouren beschleunigt. Ein „Pyrrhus-Attentat“ schreibt die linksliberale israelische Zeitung „Haaretz“ zurecht.
Brüskiert ist wieder einmal die Biden-Administration, die sich auch dieses Mal um Deeskalation bemühte und an Netanyahu, dem „Machiavelli des Nahen Ostens“ (NZZ am Sonntag), scheiterte. In Dutzenden von Telefongesprächen leistete der US-Präsident Joe Biden Überzeugungsarbeit. Man ist per „Du“ und Bibi, abgeleitet von Netanyahus Vorname Benjamin, flüsterte dem lieben Joe Schallmaientöne des Friedens ins Ohr. Optimistisch trat dann Biden vor die Medien, um den bevorstehenden Durchbruch zu verkünden. Kaum war die Pressekonferenz des US-Präsidenten zu Ende, beteuerte Netanyahu, keinen Zentimeter den Hamas-Terroristen entgegenkommen zu wollen. Das Leben der Geisel hatte von Anfang an für „Bibi“ keine Priorität. Und so wie im Bunker des Beiruter Headquarters der Hisbollah – auf Deutsch: die Partei Gottes – sass, sitzt immer noch eine Partei Gottes am israelischen Kabinettstisch in Jerusalem, so der New York Times-Kolumnist Thomas Friedman über die Rechtsextremen und Ultraorthodoxen in Netanyahus Koalition.
Polit-Propaganda religiös unterfüttert
Selbst der areligiöse Netanyahu vermischte bei seiner UN-Rede seine politischen Kampfvokabeln mit religiösen Einsprengseln, zitierte den Propheten Samuel: «Die Ewigkeit Israels wird nie ins Wanken geraten.» Die israelische Partei Gottes setzt auf das von Gott zugesprochene Land.
Dazu passt genau die nahöstliche Karte, die Netanyahu mit dem Wort „Fluch“ bei seiner UN-Rede überschrieben hat. Da ist die Achse des Bösen oder in der Lesart Teherans die Achse des Widerstands, also Iran-Irak-Syrien-Libanon, schwarz eingezeichnet. Und in Israels Grenzen liegen ganz selbstverständlich die Westbank und der Gazastreifen – «from the river to the sea.»
Der bibelkundige Netanyahu hat leider nur ein Musikgehör für eine Botschaft der Thora: die von Gott Israel zugesprochene Auserwähltheit unter den Völkern. Für andere Botschaften dagegen ist der Mann, der sich so gerne auf Abraham beruft, taub.
Als Abraham im Gespräch mit Gott dessen Plan vernimmt, die Städte Sodom und Gomora zu zerstören, wirft er die Frage auf: «Willst du wirklich den Gerechten zusammen mit dem Frevler wegraffen?» Wenn nur zehn Gerechte unter den vielen Frevlern seien, dürfte ein solches Zerstörungswerk nicht in Gang gesetzt werden. Mit seiner Fürsprache avanciert Abraham zu einem Pionier des Völkerrechts. Modern gewendet müsste sich auch Netanyahu wie der biblische Stammvater des Judentums, Christentums und Islams fragen: Wieviele Gerechte finden sich unter den zehntausenden Toten von Gaza und nun auch im Libanon?
P.S.: Die kriegerischen Ereignisse marschieren schnell. Kaum war der Blogbeitrag geschrieben, poppten die Pushmeldungen auf: «Israel startet Operation mit Bodentruppen im Libanon.»