Vergessene deutsche Ostkolonisation

Peter Conzelmann

Über Sebastian Haffners Buch „Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg“

Der Autor Sebastian Haffner, geboren 1907 in Berlin, gestorben 1999 ebenda, war ein deutsch-britischer Journalist, Publizist, Historiker und Schriftsteller.

Haffner, mit bürgerlichem Namen Raimund Werner Martin Pretzel, promovierter Jurist, wandte sich in den 1930er Jahren dem Journalismus zu. Nach der Machtergreifung der Nazis ging er ins Exil, zunächst nach Frankreich, anschließend nach Großbritannien. Dort begann er, für die Zeitung „Observer“ zu schreiben, und legte sich hierfür seinen Alias-Namen zu. Für den „Observer“ remigrierte er in den 1950er Jahren als Korrespondent nach Deutschland. Dort wurde er einem breiten Publikum bekannt als Kolumnist für die Zeitschrift „Stern“ sowie als Verfasser einer Reihe von biografischen und zeitgeschichtlichen Büchern, die sich größtenteils mit der deutschen und europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts befassten. Insbesondere seine Schriften über Adolf Hitler und den Nationalsozialismus haben bleibende Beachtung gefunden.

Eher durch Zufall wurde ich auf Haffners Buch „Die sieben Todsünden des Deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg“ aufmerksam. Der Titel klingt reißerisch, doch das Buch ist in dem elegant-sachlichen Ton geschrieben, den ich bereits von diesem Autor kannte, so von seinem erfolgreichen Titel „Anmerkungen zu Hitler“ (1978), von der umfangreichen Studie „Von Bismarck zu Hitler – Ein Rückblick“ (1987) und der postum erschienenen Autobiographie „Geschichte eines Deutschen“ (2000). Haffners besondere Fähigkeit ist, komplexe Sachverhalte anschaulich darzustellen und sehr pronocierte und klare Urteile zu fällen. Dabei gelingt es ihm auch, historische Erfahrungen auf aktuelle Entwicklungen zu beziehen.

Zu den sieben Todsünden, die Haffner aufzählt, gehörte in allererster Linie die Abkehr von der Politik Bismarcks, der es als Reichskanzler nach der Gründung des (Zweiten) Deutschen Reiches im Jahr 1871 darauf anlegte, keine aggressiven außenpolitischen Ambitionen mehr an den Tag zu legen. Bismarck hielt sich insbesondere bei der Frage von Kolonien nach dem Vorbild Englands und Frankreichs deutlich zurück, eine Politik, die aus Sicht Haffners, ab der Mitte der 1890er Jahre von den deutschen Eliten, auch in Kultur und Wissenschaft, über Bord geworfen wurde. Das Deutsche Reich strebte nach „Weltmacht“ und wollte einen „Platz an der Sonne“.

Zu den weiteren Todsünden zählt Haffner den bei Kriegsbeginn von der militärischen an der politischen Führung vorbei ausgeführten Schlieffen-Plan. Mit diesem sollte ein schneller Sieg über Frankreich erreicht werden, wobei ein Überfall auf das neutrale Belgien für notwendig erachtet wurde, was den Kriegseintritt Großbritanniens provozierte. Hinzu kommen der unbeschränkte U-Boot-Krieg ab 1917 sowie das riskante „Spiel mit der Weltrevolution und der Bolschewisierung Russlands“ durch den Pakt mit Lenin bzw. dessen Passage ins gegnerische Russland in der Hoffnung, den östlichen Kriegsgegner dadurch zu schwächen.

Ein Kapitel widmet Haffner dem 1917 geschlossenen Friedensvertrag von Brest-Litowsk und vor allem dem, was danach geschah. Die Kalkulation des Deutschen Reiches mit Lenin schien aufzugehen, denn dieser war bereit, nach der erfolgreichen Machtübernahme durch die Bolschewisten auf die harten Bedingungen des Deutschen Reiches einzugehen.

Durch den Vertrag von Brest-Litowsk wurde den Russen immens viel abgepresst, in Haffners Darstellung: 26 % des Vorkriegsterritoriums, 27% der landwirtschaftlichen Anbaufläche, 26% des Eisenbahnnetzes, 33% der Leicht- und 73% der Schwerindustrie, 75% der Kohlebergwerke. Es bekam den Zugriff auf Finnland, Estland, Livland, die Ukraine samt der Krim und das Donezgebiet. Das war relativ gesehen deutlich mehr und schmerzhafter, als später die Alliierten dem Deutschen Reich durch den Versailler Vertrag zumuteten.

Aber es war dem Deutschen Reich damit nicht genug. Es wollte Weiteres erobern, besessen von der Vorstellung, ein Ostimperium von großen Ausmaßen zu errichten. Darum entschied man in Berlin, rund 50 Divisionen im Osten zu belassen, statt sie nach Westen zu schicken, wo sie an der Front dringend gebraucht wurden, bevor die USA, provoziert durch die deutschen U-Boote, in das Kampfgeschehen eingreifen konnten. Ein grandioser und nicht nachvollziehbarer Fehler, wie Haffner konstatiert. Zwar sei der Krieg entgegen aller Durchhalteparolen vom sogenannten „Siegfrieden“ an der Westfront nicht mehr zu gewinnen gewesen, doch hätten man durchaus die dortige Lage so gestalten können, dass die Position für die sich abzeichnenden Friedensverhandlungen eine bessere gewesen wäre.

Neben dem rein militärischen Aspekt, den Haffner hier vor allem in den Fokus nimmt, geht es ihm an dieser Stelle seiner Schrift auch darum, ein weiteres Mal – nach dem einleitenden Kapitel über die Abkehr von Bismarcks Haltungen – auf die völlig übersteigerten und verqueren imperialistischen Ziele der deutschen Außenpolitik hinzuweisen. Mehr noch, er ruft in Erinnerung, worauf diese Ambitionen zielten: auf Osteuropa und dort vor allem auf die Regionen vom Baltikum bis zur Krim, also genau die geographische Zone, die ein halbes Jahrhundert später von Timothy Snyder als „Bloodlands“ bezeichnet wurden. Und er weist seine Leserschaft darauf hin, dass besonders diese Bestrebungen aus dem kollektiven Gedächtnis der Deutschen verschwanden. In Haffners Worten:

„Was hier zu erzählen bleibt, ist das Drama von Brest-Litowsk und das noch phantastischere Drama der deutschen Ostpolitik nach dem Brest-Litowsker Frieden. Es sind zwei Kapitel vergessener Geschichte.“

Es ist diese vergessene Geschichte, die uns heute angesichts des Kriegs in der und gegen die Ukraine einholt. Fokussiert bis heute auf den Versailler Vertrag und dessen unbestreitbar gravierenden Folgen, sagt den Deutschen, von den Fachleuten abgesehen, der Vertrag von Brest-Litwosk so gut wie nichts mehr. Noch weniger die Anmaßung auf Errichtung eines deutschen Imperiums im Osten, ein Plan, den sich nach Ende des Ersten Weltkriegs die politische Rechte in Deutschland wieder auf die Fahnen geschrieben hatte und den das NS-Regime im Sinn und als Blaupause in der Schublade hatte, als es im Zweiten Weltkrieg daran ging, die Sowjetunion zu überfallen.

Damals hatten es die deutschen Imperialisten auf das Baltikum, Polen, Belarus und vor allem auf die Ukraine abgesehen, also auf Länder, denen sowohl die Russen als auch die Deutschen die kulturelle und nationale Eigenständigkeit absprachen. So sehr, dass es sich bei der Ukraine bis heute gehalten hat, und so sehr, dass die Deutschen noch heute nicht verstehen können oder wollen, warum sich besonders diese Länder gegen den wiedererstarkten russischen Imperialismus aktiv zur Wehr setzen wollen.

Dieses Vergessen des deutschen Imperialismus im Osten, eines Imperialismus, der auch im Zusammenhang mit dem Diskurs um den deutschen Imperialismus in Afrika in den Hintergrund zu treten scheint – dieses Vergessen und Nichtwissen war eines der zentralen Motive, das in unseren Diskussionen seit dem Überfall von Putins Russland auf die Ukraine eine gewichtige Rolle spielte. Denn mit diesem Vergessen einher geht die völlige Unkenntnis über die Binnenverhältnisse des imperialen russischen Zarenreichs und seines politischen Erben, der Sowjetunion, vor allem die Unkenntnis über die lange Geschichte der Vereinnahmung, Unterdrückung und genozidaler Auslöschung der ukrainischen Kultur.

Erst ein Bewusstwerden über die Ausmaße der imperialen Bestrebungen, denen die genannten Länder über viele Jahrzehnte unterlagen, erst das Wissen über die Methoden und Folgen dieses Machtstrebens, machen erkennbar, was heute in Osteuropa auf dem Spiel steht.

Peter Conzelmann


Sebastian Haffners Buch „Die sieben Todsünden des deutschen Reiches im Ersten Weltkrieg“ ist 1964 im Gustav Lübbe Verlag, Bergisch Gladbach, erschienen, somit 50 Jahre nach Beginn des Ersten Weltkriegs. Lesenswert ist, neben der Darstellung der „sieben Todsünden“ in sieben Kapiteln, auch das Nachwort, in welchem Haffner sehr dringlich auf die Parallelen zwischen der deutschen Politik von vor 1914 bis 1918 und der deutschen Politik nach 1945 hinweist. Nochmals erschienen und mit einem zusätzlichen Nachwort versehen ist das Buch 1981 im gleichen Verlag, somit 40 Jahre nach Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion. Haffner wägt darin ab, wie sich die deutsche Politik zum Positiven seit dem Ersterscheinen seines Buches verändert hat.

  • Christina Herbert-Fischer

    16.10.2024, 12:50

    Danke für den Tipp, ich werde das Buch lesen. Dass es diesen Vertrag von Brest-Litwosk gab, wusste ich. Über dessen Inhalt wusste ich leider bisher eigentlich so gut wie nichts. Ich bin gespannt auf das Buch, bestellt ist es schon (gebraucht/Paperback für 4.95 Euro). Euer Blog ist wirklich super.

    Auf Christina Herbert-Fischer antworten Abbrechen

    Ihr Kommentar wird nach Freigabe veröffentlicht

  • Ihr Kommentar wird nach Freigabe veröffentlicht