Über den ukrainischen Jedermann

Ernst Köhler

Woher nehmen die Ukrainer die Kraft dafür, diese Entschlossenheit zum Widerstand? Es ist ein großes, unvergleichliches Ereignis der Gegenwart. Aber ist es nicht auch ein unfassbares? Mehr als 90 Prozent der Zivilisten des Landes wollen, dass die ukrainische Armee bis zu vollen Befreiung ihres Landes kämpft – was auch immer sie durchmachen und noch durchmachen müssen. In Deutschland bewundern wir diese Menschen dafür und stehen hinter ihnen. Heute nicht mehr die Mehrheit von uns. Aber ob es nun, sagen wir, 60 Prozent oder nur noch 40 Prozent sind, ist zweitrangig. Es sind nach wie vor sehr viele von uns. Ungeachtet aller Probleme, die der Krieg auch uns selbst auferlegt. Das ist ausschlaggebend. Es ist immer noch ein massives Votum, eine gesellschaftliche Wucht, eine kritische Masse.

Aber verstehen wir die Ukrainer auch? Unsere Hochachtung hat etwas Empathisches, das heißt auch: etwas Labiles. Der Respekt ist ohne Zweifel authentisch, aber auch anfällig für gewisse Ermüdungserscheinungen. Nicht nur in Deutschland, sondern auch anderswo im Westen, nicht zuletzt in den USA. Aber bleiben wir bei uns. Man kann in niemanden hineinsehen. Aber das Thema Krieg – der ein Vernichtungskrieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung ist, so wie der serbische Krieg der 90er Jahre ein Vernichtungskrieg gegen die bosnische Zivilbevölkerung war – wird bei uns möglichst vermieden. Auch im engeren Bekanntenkreis, auch in der Familie. Das ist eine Form der Selbstvereinzelung, wie soll sich da politischer Zusammenhalt und kollektive Festigkeit entwickeln?

Vor der Klammer steht: Unserer Anteilnahme und Loyalität fehlt es hinten und vorn an historischem Wissen. Sie wären verlässlicher, wenn wir nicht so wenig wüssten über das unbeugsame Land. Hier der Versuch einer Annäherung in Stichworten: über drei Quellen geistiger Autonomie, ausgereifter nationaler Besonderheit oder Identität, aus denen die Selbstbehauptung der Ukraine gegen die Aggression Russlands schöpfen kann. Es sind zugleich aber auch drei Punkte, die uns eher fremd sind und in denen wir Mühe haben, den Bürgern der Ukraine zu folgen. Es sind drei Grundtatsachen der ukrainischen Geschichte und Zeitgeschichte, in die wir uns gerade einzuarbeiten begonnen haben. Ausgerechnet dort, wo sie handeln, wo sie sich zusammenschließen, wo wir sie über sich selbst hinauswachsen sehen, stoßen wir an die Grenzen unseres Erfahrungshorizonts.

Erstens wissen die Ukrainer, wer Putin ist. Und das nicht erst seit 2014. Wir nicht – oder erst seit gestern, soweit wir uns da überhaupt schon bewegt haben sollten, „Zeitenwende“ hin oder her. Als deutsche Durchschnittsbürger stehen wir freilich kaum vor der Frage, ob wir den russischen Präsidenten nicht doch langsam wieder mal anrufen sollten. Um ihn ordentlich zu ermahnen. So ganz isoliert sind Figuren wie Olaf Scholz oder Emmanuel Macron nun auch wieder nicht. Sie gehören mit ihrem absurden Phantasma von der Unsterblichkeit der Diplomatie zu unserer vertrauten politischen Vorstellungswelt. Es ist eine aus der Zeit gefallene Welt, in der Staatsmänner immer Staatsmänner bleiben, egal was für Verbrechen sie begehen.

In der Ukraine ist der Nationalismus dann zweitens die maßgebliche Schubkraft hinter der europäischen Orientierung des Landes. Er war es dort, wie man jetzt in einem Standardwerk zur Geschichte der Ukraine nachlesen kann (Serhii Plokhy, Das Tor Europas, 2022), immer wieder. Seitdem es in diesem Land überhaupt so etwas wie einen modernen Nationalgedanken gibt. In Deutschland hat der Nationalismus Hitler an die Macht gebracht, was hier zum Glück niemand von Anstand vergessen kann und will. Was hier andererseits aber auch gern und fast schon reflexartig verallgemeinert wird. So als ob der Nationalismus immer und überall, aus seinem eigentlichen Wesen heraus in eine völkische, rassistische, faschistische, genozidale Richtung abdrifte. Andere, entgegen gesetzte Erfahrungen vor der Haustür – wie etwa die im Kosovo der 80er und 90er Jahre kommen dagegen schlecht an. Auch hier war der Nationalismus, der Wille zur Sezession von Serbien, die Entscheidung für die staatliche Eigenständigkeit die entscheidende Kraft hinter Regimewechsel und Demokratisierungsprojekt. In der Literatur über die politische Entwicklung vor und nach der Unabhängigkeit der Ukraine ist die Rede von einem „liberalen Nationalismus“ oder „staatsbürgerlichen Nationalismus“. Gefeit gegen die angedeutete Entartung ist er freilich nie.

Und schließlich : Seit der Unabhängigkeit von 1991 ist die strukturell, sozioökonomisch in grundverschiedene Regionen geteilte, wenn man will: gespaltene Ukraine schrittweise zu einem Nationalstaat zusammengewachsen, der von einer klaren Mehrheit der Bevölkerung in allen Regionen getragen wird. Schon vor dem Krieg seit Februar 2022. Mehr noch: die in einer langen Geschichte ausgebildete regionale Zerrissenheit hat es dem Land – man möchte sagen: ironischerweise – ermöglicht, einen eigenständigen demokratischen Pluralismus hervorzubringen. Anders als in der postsowjetischen russischen Republik unter Jelzin, der Panzer auf das Parlament hat schießen lassen, hat sich das Parlament in Kiew von Anfang an nie zu einer Institution des bloßen Abnickens degradieren lassen. (Vgl. auch: Mykola Rjabtschuk, Die reale und die imaginierte Ukraine, 2013) Auch schon vor 2013/14 nicht, also vor der Revolution des „Maidan“, die nach mehr als zwei Jahrzehnten staatlicher Unabhängigkeit dann den Bruch auch mit dem autokratischen Herrschaftsmodell Moskaus brachte. „Bruch“ heißt hier auch: die Entfaltung einer kritischen politischen Öffentlichkeit: die für die Unabhängigkeit der Justiz kämpfen muss, weil sie in der Ukraine noch verweigert wird. Die gegen Korruption kämpfen muss, weil sie auch im neuen Staat noch das gesamte Leben beherrscht, und zwar von ganz oben nach ganz unten. Seit spätestens 2015 kommen auch bei uns die Stimmen dieser Reformforderungen zu Geltung. Wir müssen sie nur hören.

Es gibt da freilich eine besondere Schwerhörigkeit: Die regionalen Gegensätze in der Ukraine – zwischen Lwiw und Donezk, pointiert gesagt – scheint man hier vor allem als „ethnische“, „sprachliche“, „kulturelle“ verstehen zu wollen. So schreibt man sie aber über Gebühr fest und stilisiert sie zu einer kaum noch wandlungsfähigen Mentalität hoch. Statt sie eher politisch aus der jeweils spezifischen imperialen Geschichte der einzelnen Regionen herzuleiten: lange unter den Habsburgern oder endlos lange unter dem zaristischen russischen Reich. Wir haben es da in der deutschen Öffentlichkeit mit einer griffigen Sorte von Halbwissen und Klischeedenken zu tun. Anscheinend muss es heutzutage immer gleich “Kultur“ sein, eine Art zweiter Natur. Darunter tun wir es nicht. Dergleichen Vorurteil ist zählebig. Auch wenn die Propaganda des Kreml unser selbst geschaffenes Zerrbild nicht noch mit aller Macht unterstützte, wie er es seit Jahren tut.

(Erstveröffentlicht am 17. November 2022)

  • Tim Köhler

    25.10.2024, 15:32

    selten schöner Text, abgehangen, klar und sehr überzeugend.

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  • Christina Herbert-Fischer

    25.10.2024, 20:12

    Was Sie über die Kultur schreiben bzw. das Verständnis der deutschen darüber, ist nicht von der Hand zu weisen. Meine Vorstellungen darüber wurden in den letzten Jahren völlig auf den Kopf gestellt. Unsere Schwiegertochter stammt aus der Ukraine, sie wuchs in der Nähe von Charkiv auf, die Familie ist russisch. Zu Zeiten des Maidan waren sie sehr skeptisch, was ich teils nachvollziehen konnte, eine Hinwendung zu Russland war stark spürbar. Verwandte lebten jenseits der Grenze. Die Veränderung kam mit der Regierung von Selensky. Die Stimmung änderte sich. Trotz Korruption zeigten sich erste Ansätze vieles zu verbessern und auch der ging es an den Kragen. Eigentlich eine gute Sache, der große Bruder war trotzdem noch genau der große Bruder und bis zuletzt konnten ihre Eltern, die noch dort lebten, nicht glauben, dass Russland die Ukraine angreifen würde. Nun gut Teile des Ostens und die Krim, aber doch nicht mehr. Es war in der ersten Nacht des Krieges, als Raketen in Tschuhuijw ihrem Wohnort ohne Vorwarnung einschlugen. Es hat dazu geführt, dass sie ihre Identität heute als ukrainisch verstehen. Es ist traurig, die einst über die Grenzen hinweg funktionierende Familie, ist zerbrochen, man kann von Hass auf Russland und allem Russischen sprechen. Ich kann es verstehen, finde es trotzdem auch traurig. Erst nach Monaten gelang ihnen die Flucht, sie haben alles verloren was ihnen wichtig war. Wenn ich dieses Leid in der Ukraine sehe, die Zerstörungen auch an Orten, die mein Sohn von seinen Besuchen her kannte, tue ich mich sehr schwer im Ertragen so mancher Statements von sehr links bis rechts. Ich frage mich wirklich, wie blind man sein muss, um dieser russischen Regierung noch die Stange zu halten. Wie blind muss man sein, um die Ukrainer allein von ihrer Herkunft her in verschiedene Schubladen zu stecken und dabei die „Kultur“ zu bemühen.

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  • Christina Herbert-Fischer

    27.10.2024, 19:10

    ps. der Angriff erfolgte um 4 Uhr morgens zeitgleich in Kiew, Sumy und Tschuhuijw, sowie anderen Orten. Die Menschen wurden von den Detonationen aus dem Schlaf gerissen. Ich war in dieser nacht plötzlich hell wach ohne Grund. Mir war klar, dass ich nicht weiter schlafen konnte. Ich machte den PC an und las kurz vor 5 Uhr oder etwas früher im Netz von dem Angriff. Ich rief meine Schwiegertochter aufs Festnetz an, sie versuchte ihre Eltern parallel mit dem Handy zu erreichen. Das gelang und ich werde niemals vergessen, wie ich übers Telefon die Detonationen hören konnte. Es hat Spuren hinterlassen bis heute.

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