Gewalt gegen Juden
Eine Anmerkung zur ukrainischen Geschichte im 20. Jahrhundert
Auch der ukrainische Nationalstaat ist im 20. Jahrhundert entstanden. Er ist das Produkt zweier Weltkriege. Der Massenmord an den Juden, begangen von Soldaten, zivilen Nationalisten und Bauern, die – wenn es niemand gab, der mäßigend auf sie einwirkte – zu einem gewalttätigen Mob werden konnten – ist ein integrales Element dieser Staatsbildung. Im jüdischen Gedächtnis müssen die zahllosen, nicht nur, aber vor allem ukrainischen antijüdischen Pogrome vor dem Holocaust durch die Deutschen die überragende, alles überschattende Seite dieser Anfänge neuer Staaten in Osteuropa sein. Über die deutsche Besatzung der Ukraine besitzen wir mit dem zuletzt erschienenen Buch von Omer Bartov „Anatomie eines Genozids. Vom Leben und Sterben einer Stadt namens Buczacz“ (2021, bei Suhrkamp/Jüdischer Verlag) ein weiteres grundlegendes Werk historischer Forschung. Es ist zugleich auch ein Zeugnis: die Mutter des Autors kam ursprünglich aus Buczacz, einer kleineren Stadt in Galizien.
Wie gehen wir mit dieser geschichtlichen Realität um? Wir, das heißt hier: die breite Masse der nichtjüdischen Deutschen von heute? Die wir uns gerade mühsam, zögernd, feige genug bemühen, den Freiheitskampf der Ukraine gegen den russischen Vernichtungskrieg überhaupt an uns herankommen zu lassen? Wie gehen wir um mit den furchtbaren, massenhaften Verbrechen diverser ukrainischer Akteure am Ende und nach Ende des Ersten Weltkrieges, mit der Radikalisierung des westukrainischen Nationalbewegung in der Zwischenkriegszeit, mit der Kollaboration ukrainischer Nationalisten mit den Nazis nach 1941? Es gibt da einen klaren Irrweg: diese Ereignisse nur anzusprechen, sie heraufzubeschwören, die gewissermaßen aufzuspießen; sie in dieser kruden, kontextlosen Hervorhebung aber zu belassen und so gegen die Solidarisierung mit der um ihre Existenz kämpfenden Ukraine relativierend in Anschlag bringen. Dann wird uns ein Bild von diesem Land suggeriert, das zwischen Anteilnahme, Respekt und Verdacht haltlos schillert. Dann läuft auf einmal unser Versuch, die unerhörte, uns an sich so ferne, fremde Selbstbehauptung und Tapferkeit der Ukrainer in dem gegenwärtigen Krieg zumindest anzuerkennen, auf eine falsche, bodenlose Heroisierung hinaus. Denn unter der Hand verwandelt sich in dieser Sorte von Zugriff der ukrainische Nationalgedanke in eine essentiell, das heißt: wesensmäßig rassistisch, faschistoid prädisponierte Identität. Es entsteht der Anschein eines ethnischen Geburtsmakels. Wir sprechen hier nicht von Moskau und seinen Lügengeschichten von dringlicher Entnazifizierung. Wo sie einem im eigenen Bekanntenkreis begegnet – und das tut sie nach wie vor, lässt sich diese Form der vergifteten Andeutung eher als eine versetzte, abgeglittene, übergriffige Spielart deutscher „Vergangenheitsbewältigung“ charakterisieren. Sie hat mehr mit uns selbst zu tun als mit der von ihr vermeintlich hinterfragten Ukraine. Sie kommt ja auch aus der im Sterben liegenden alten pazifistischen Linken. Der man vieles vorwerfen kann, nur nicht das „Nichts ist wahr, alles ist möglich“ des Kreml. Diese meist älteren Leute sprechen durchaus aus sich heraus, hochmoralisch, geradezu apodiktisch moralisierend. Wenn sie überhaupt noch zu einer Auseinandersetzung bereit sind.
Gegen diese Verranntheit und Selbstüberhebung hilft nur eines: historische Forschung. Und dieser Weg sieht sich zielbewusst und auf hochprofessionellem Niveau auch längst eingeschlagen. So ist dieser Tage in Lwiw (Lemberg) ein ukrainisch-deutsches Forschungsprojekt eröffnet worden, das sich vor allem der Gewalt in Osteuropa während des 20. Jahrhunderts widmen will. (Vgl. Yelizaveta Landenberger, Lemberg, „Von der Front in die Forschung“, in: FAZ vom 24.10.2014). Von deutscher Seite liegt die Leitung bei Martin Schulze Wessel (München). Ihm verdankt die deutsche Öffentlichkeit bereits ein vielgelesenes Buch, das unbedingt zur Pflichtlektüre in diesen Kriegszeiten zählt: “Der Fluch des Imperiums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte“ (München 2023, bei C.H. Beck). Ihm zur Seite steht in diesem Projekt Yaroslav Hrytsak, der an der Katholischen Universität in Lwiw lehrt. Der deutsche Leser hat nun das unverschämte Glück, dass Yaroslav Hrytsak kürzlich (2022) eine Geschichte seines Landes vorgelegt hat, die auch bereits ins Deutsche übersetzt ist: „Ukraine. Biographie einer bedrängten Nation“(München 2024, bei C.H. Beck). Unsere Aufklärung gewinnt damit ganz erheblich an Substanz und Horizont. Richtiger gesagt, wir profitieren hier von der ukrainischen Selbstaufklärung; denn das Buch ist erst einmal für das heimische Publikum geschrieben worden. Es will dem eigenen Land aufzeigen, wie es sich in Jahrhunderten immer wieder nach Westen orientiert und sich schließlich zu einer modernen – das heißt: nicht mehr allein von seinen Schriftstellern und Intellektuellen, sondern von den Massen der Bevölkerung und von politischen Parteien gewollten, getragenen und organisierten – Nation entwickelt hat.
Das leitende Verfahren des Autors ist dabei, diesen komplexen, zuerst vornationalen und dann im „langen 19. Jahrhundert“ (vom Ende des 18. Jahrhundert bis 1914) national gewendeten Gesamtprozess in seinen Phasen jeweils in einen globalen Zusammenhang zu stellen. Einfach gesagt: Was in der Ukraine, bzw. in den ukrainischen Lebensräumen, geschehen ist, ist oft ganz ähnlich und verwandt auch anderswo auf der Welt passiert. Mit dieser Methode des internationalen Vergleichs, mit dem empirischen Nachweis sich bei Licht geradezu aufdrängender weltweiter Bezüge und Analogien gelingt es Hrytsak, die Geschichte seines Landes aus der künstlichen, imaginären Isolierung, Randständigkeit oder schieren Missachtung herauszuholen, wie sie der ukrainischen Gesellschaft vom Westen, von Westeuropa, von Deutschland aufgenötigt und zugemutet worden ist. Das alles meisterhaft gelöst, inspiriert und sprudelnd reich geschrieben. Ein Bürger des Landes, ein junger oder alter, der sich, sagen wir, 2013/2014 hinter den „Maidan“ gestellt hat, den Durchbruch einer genuinen, handlungsfähigen, ukrainischen Zivilgesellschaft, kann hier zum Beispiel lesen:
„Der Euromaidan sollte jedoch nicht nur mit dem Maidan von 2004 verglichen werden…Dabei lassen sich auffällige Ähnlichkeiten feststellen. Das zeigt die folgende kurze Beschreibung der Ereignisse in Chile im Jahre 2019. Die Prozesse begannen zunächst als Studentendemonstrationen, die von den Behörden brutal aufgelöst wurden. Als die Massenmedien über die Ereignisse berichteten, wuchs sich die Bewegung zu riesigen Demonstrationen gegen die Regierung aus. Am größten Protestzug beteiligten sich über eine Million Menschen. Der zentrale Platz der Hauptstadt, die Plaza Italia, wurde zum Mittelpunkt der Proteste; er wurde von den Demonstranten in „Platz der Würde“ umbenannt. Der Präsident rief den Notstand aus. Er erklärte, die Proteste würden von feindlichen, ausländischen Kräften befeuert; die Regierung sei im Recht und werde die öffentliche Ordnung wiederherstellen. Hatten sich die Demonstranten bisher friedlich verhalten, so kam es nun zu Zusammenstößen mit den Polizeikräften. Straßenkämpfer, bewaffnet mit selbstgefertigten Schutzschilden und mit Pflastersteinen und Molotowcocktails, verteidigten die Frontlinie und hinderten die Polizei erfolgreich daran, ins Zentrum der Proteste vorzudringen. Demonstranten jeden Alters und jeder sozialen Herkunft unterstützen die Kämpfer an der Frontlinie. Sie bildeten Sanitätergruppen, verteilten Wasser und Sandwiches, fertigten Molotowcocktails und lieferten Nachschub an Pflastersteinen an die Front. Das alles mag chaotisch ausgesehen haben, aber der chilenische Aufstand funktionierte wie eine geölte Maschine….“
Aber der eigentliche Test dieser Geschichtsschreibung ist vielleicht nicht diese schöne, stolze Öffnung zur Weltgeschichte hin; nicht die hier so überzeugend vorgetragene Entdeckung und Einsicht, dass der historische Weg der Ukraine immer wieder universale Züge aufweist. Er liegt für mich vielmehr in der Auseinandersetzung mit den katastrophalen Massenverbrechen auf diesem Weg im letzten Jahrhundert. Mitten im Krieg; angesichts der beharrlichen Weigerung unserer Staaten, Russland angemessen entgegenzutreten, unternimmt es dieser ukrainische Historiker, seiner Nation den Spiegel vorzuhalten. Die hier vorgelegte, aus den Quellen erarbeitete Kontextualisierung der historischen Tatsachen ist ebenso weit von irgendeiner nationalen Apologetik entfernt wie von jener diffusen, dreist pauschalen Verdächtigung, wie sie sich manche bei uns noch erlauben.
Aber das in unserem Zusammenhang zentrale Kapitel des Buches (5: Ukraine, 1914-1945) muss man schon selber lesen. Ich beschränke mich hier darauf, einige der exemplarischen Untersuchungsergebnisse zu zitieren. Es sind nur ein paar Kostproben aus einem großen Text. Aber sie können uns vermitteln, was historische Forschung ist. Viele Fragen. Fast mehr als Antworten. Aber bitte, haben wir nicht eher zu schnelle Antworten für dieses uns noch weithin unbekannte Riesenfeld?
„Wie lässt sich die Intensität der Gewalt auf ukrainischen Boden in den Jahren 1914 bis 1945 erklären? Man kann wohl kaum von spezifisch nationalen Ursachen sprechen, obwohl derartige Erklärungsversuche existieren. Die Ukrainer waren hauptsächlich ein Bauernvolk, und Bauern wird bisweilen eine besondere Neigung zur Gewalt zugeschrieben. Vor allem die ukrainische Bauernschaft ‚erwarb’ einen geradezu legendären Ruf als fanatische Antisemiten. Tatsächlich enthält das ukrainische Volkstum Sprichwörter und Redewendungen, die wie ein direkter Aufruf zur Vernichtung der Juden und Polen klingen. Experten für die Bauerngesellschaft argumentieren jedoch, dass es, ganz entgegen der Vorstellung, Bauern würden zu besonderer Brutalität neigen, schwierig sei, sie zur Massengewalt anzustacheln. Damit Bauern zu den Waffen greifen und anfangen, ihre Grundherren oder Nachbarn, Juden, Polen oder deutsche Siedler zu ermorden, muss schon etwas Außergewöhnliches passieren, etwas, das ihre Lebensweise und sogar ihr Überleben bedroht. Krieg, Epidemie, die Ermordung des ‚guten Zaren’. Keine einzige dieser Ursachen war lokal bedingt.“ (R. Hrytsak, Ukraine, S. 210 f.)
„Keine Regierung konnte sich in den ukrainischen Gebieten des früheren Russischen Reiches länger als sechs Monate halten. Die ständigen Regimewechsel führten zum vollständigen Zusammenbruch des staatlichen Gewaltmonopols. Alle Seiten machten von Gewalt Gebrauch, und jede Seite war Opfer und Täter zugleich. Die Hauptopfer jedoch waren die Juden. Zwischen 1918 und 1921 kam es auf dem Territorium des ehemaligen Russischen Reiches zu ungefähr 2000 Pogromen. 75 Prozent davon auf ukrainischen Boden. Ohne Ausnahme beteiligten sich sämtliche lokalen Streitkräfte daran. Zeitgenössische Beobachter schrieben, dass der Antisemitismus unter Soldaten und Offizieren an Wahn grenzte. Die Rote Armee, die Armee der Westukraine und die Bauernarmee Machnos hatten den kleineren Anteil an der Gewalt, während 40 Prozent der Gewaltakte allein auf die Armee der Ukrainischen Volksrepublik (UVR) und den mit ihnen verbündeten Einheiten entfielen. – Die ukrainisch-jüdischen Beziehungen während der Revolution stellen ein Paradox dar. Einerseits fand die schlimmste Welle der antijüdischen Gewalttätigkeiten auf dem Territorium der Ukrainischen Volksrepublik statt. Gleichzeitig jedoch zeichnete sich die Volksrepublik durch eine außerordentlich liberale Gesetzgebung bezüglich der Rechte nationaler Minderheiten aus, vor allem Juden, denen hier mehr Rechte zugestanden wurden als beispielsweise im benachbarten Litauen, Lettland, Estland oder Belarus.“ ( A.a.O. , S. 240 f.)
„Das Auftreten einer neuen nationalistischen Generation war kein spezifisch ukrainisches Phänomen. Es trat auch bei den Polen, Juden, Rumänen und anderen Gesellschaften auf. Alle gehörten der europäischen Zwischenkriegsgeneration an, die mit dem Übergang zum ‚reaktionären Modernismus’ in Verbindung gebracht wird. Dieser Modernismus hasste die Moderne des 19. Jahrhunderts mit ihren Idealvorstellungen von universalem Fortschritt, liberaler Demokratie und freiem Markt. Ihr Hauptmerkmal in ideologischer Hinsicht war die Idealisierung revolutionärer Gewalt, auf politischem Gebiet die Tendenz zum Autoritarismus und in ökonomischer Hinsicht die staatliche Regulierung der Wirtschaft. Mit Blick auf die Ukraine kamen noch zwei weitere Merkmale hinzu: die Verbitterung über die nationale Niederlage und der Mangel an wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Chancen…Vor dem Hintergrund des Holodomor und der stalinistischen Repression gegen die Ukraine in den 1930er Jahren verflüchtigte sich jede sowjetophile Sympathie…In den 30er Jahren galt nicht mehr die Sowjetophilie als Alternative zu den zentristischen Parteien, sondern ein radikaler, ‚integraler’ ukrainischer Nationalismus. (A.a.O, S. 288 ff. )
„Betrachtet man das Ausmaß des Widerstands gegen die deutsche Besatzung, wirken Aussagen über eine weitreichende Kollaborationsbereitschaft der Ukrainer befremdlich, vor allem mit Blick auf die ukrainischen Nationalisten, deren Führer während des Krieges in deutschen Konzentrationslagern einsaßen. Doch das Ausmaß der Kollaboration wird von der Besatzungsmacht bestimmt, nicht von der besetzten Bevölkerung. In Osteuropa agierte das Nazi-Regime weit brutaler als in Westeuropa. In den besetzten Gebieten im Osten praktizierten die Deutschen nicht, wie im Westen, die ‚indirekte Herrschaft’ – eine eigene kommunale Verwaltung aufbauen, war den Ukrainern nicht gestattet; sie durften sich nur auf den untersten Ebenen an der Verwaltung beteiligen. Für viele war das die einzige Möglichkeit, zu überleben und ihre Familien zu ernähren. Und es gab auch keine klare Trennlinie zwischen Kollaboration und Widerstand. Ein und dieselbe Person mochte tagsüber mit dem Besatzungsregime kooperieren und nachts Flugblätter verteilen oder feindlichen Radiosendern lauschen.“ (R. Hrytsak, a.a.O., S.312 f.)