«Nie wieder» immer und überall

Delf Bucher

Die antisemitischen Krawalle in Amsterdam zeigen im Kleinen, was im Grossen schon lange gilt: Für Hassrede, aber erst recht für Gewalt gibt es keine Rechtfertigung.

Kurz bevor sich die «Reichskristallnacht» zum 86. Mal jährte, alarmierten uns antisemitisch motivierte Hooligans, meist arabischer Herkunft, in Amsterdam daran: Der Judenhass in Europa beschränkt sich nicht nur auf den Radau-Antisemitismus der Stammtische, sondern schlägt traurigerweise in Gewaltakte gegen Juden und Jüdinnen um. Nun frage ich mich: War also «Nie wieder» gestern? Für mich jedenfalls gilt «Nie wieder» für immer.

Der 9. November 1938 ist für mich auch mit einem familiär-biografischen Aspekt verknüpft. Nur wenige hundert Meter von meinem Elternhaus in Stuttgart-Bad Cannstatt entfernt stand damals die Synagoge lichterloh in Brand, die Hitzewelle trug flimmernde Holzteile des jüdischen Gotteshauses in unseren Garten. Die Feuerwehr unter dem Kommando eines strammen Nazis befahl ausschliesslich die umliegenden Häuser zu schützen, damit das Feuer nicht auf die Nachbarschaft übergreifen könne.

Irgendwann in unseren schwierigen Diskussionen zwischen Vater und Sohn um Judenhass und Genozid gestand mir mein Vater, dass am 10. November, also einen Tag nach der Reichspogromnacht, der einzige jüdische Mitschüler in seiner Klasse verprügelt wurde. Meinem Vater fehlte es damals an der Zivilcourage einzugreifen. Zum Glück sah die Familie des Verprügelten in dem Pogrom von 1938 ein Warnzeichen und flüchtete in die USA. Ein halbes Jahrhundert später reiste der Mitschüler meines Vaters im Rahmen einer von der Stadt Stuttgart initiierten Aktion zurück und nahm die Bitte um Entschuldigung meines Vaters an.

Prügel in der Stadt Anne Franks

Und jetzt wird wieder geprügelt, symbolträchtig an einem Tag, bevor sich die Pogromnacht zum 86. Mal jährt. In Amsterdam lauern kleine Schlägertrupps jüdischen Fussballfans auf, schlagen sie teilweise krankenhausreif. Die Enkelin des Holocaust-Überlebenden Abe Foxman, lange Jahre der Präsident der US-amerikanischen Anti-Defamation League, erhält einen Anruf von seiner Enkelin, ob sie es wohl bei ihrem Aufenthalt in Amsterdam wagen dürfe, das Anne-Frank-Haus zu besuchen. Soweit hätte es nie kommen dürfen.

Zwar gibt es auch von den israelischen Fans des Vereins Maccabi menschenverachtende Machenschaften zu berichten. Nicht ganz so schwer, weil niemand blutig geschlagen wurde, aber keinesfalls zu vernachlässigen. Videoaufnahmen zeigen Teile der Maccabi-Anhängerschaft schon am Ben-Gurion-Flughafen, wie sie hasserfüllte Botschaften skandieren: «Fickt die Araber», «Tod den Arabern» oder «Lasst die israelische Armee gewinnen». Die New York Times berichtet von einem besonders zynischen Slogan: «Warum gibt es keine Schulen mehr in Gaza», weil alle Kinder bereits tot seien.

Provokationen rechtfertigen nicht Gewalt

Es ist wie bei dem grossen Thema des 7. Oktober 2023 auch hier eine Frage, was sich zuvor alles abgespielt hat. Selbstverständlich soll dieser Kontext erzählt werden. Davor scheuten sich zumindest anfangs die meisten europäischen Medien und breiteten über die israelischen Krawallmacher den Mantel des Schweigens aus. Selbstverständlich ergibt sich aus den herausgeschrienen Gewaltfantasien israelischer Hooligans eine Erklärung für den Gewaltausbruch gegen Juden, aber sie darf nie für eine relativierende Rechtfertigung herangezogen werden.

Auch andere Argumente, die beispielsweise auf der Medienplattform X diskutiert werden, wollen die antisemitische Prügelorgie herunterspielen, indem sie behaupten, der Begriff «Pogrom» sei für die Amsterdamer Ereignisse völlig unzutreffend. Auch mir als Historiker ist klar:1938 steuerten die staatlichen NS-Akteure die angeblich eruptiven Gewaltexzesse. Und die Duldung oder Unterstützung der Staatsgewalt sei entscheidend, um von Pogrom zu sprechen. Aber ist dies wirklich wichtig?

Aus meiner Sicht kann eines zumindest die Taten der antisemitischen Marodeure erklären. Sie sind in einer ganz anderen Weise betroffen als die von rassistischer Ideologie verblendeten Deutschen 1938. Manche der Täter haben Verwandte in Gaza, in der Westbank oder im Libanon. Und ihren Angehörigen im Nahen Osten droht der Tod durch israelische Bomben, manche gar die ethnische Säuberung. Denn mit diesem viel diskutierten und problematisierten Wort «Ethnic Cleansing» charakterisiert die linksliberale israelische Zeitung «Haaretz» vor Kurzem die Strategie der israelischen Armee im Norden von Gaza. Dieses Territorium wird von jeder Lieferung von Lebensmitteln und Medikamenten abgeschnitten und mit Dauerbombardement versucht die israelische Armee das Gebiet menschenleer zu machen.

Die Schläger haben also Motive. Und trotzdem darf dies nie eine Rechtfertigung sein, um einzelne Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Religion anzugreifen – weder in Amsterdam noch in Ankara , weder in Tel Aviv noch in Teheran. «Nie wieder» heisst, dass wir aufhören, Menschen in kollektiven Schubladen einzusortieren und kollektiv zu verurteilen, dass wir jedem Einzelnen überall, also universell seine Menschenwürde zusprechen. Das gilt für uns europäische Zaungäste des Nahostkonflikts genauso wie für die involvierten Palästinenserinnen und Israelis.

Dieser menschenrechtliche Appell hat etwas Deklamatorisches, Papiernes. Aber so wie einst mein Vater die Bitte um Entschuldigung an den jüdischen Mitschüler gerichtet hat, so hoffe ich – ein unverbesserlicher Optimist – werden eines Tages die Amsterdamer Gewalttäter ihre Schuld erkennen und die Geschlagenen um Verzeihung bitten, so werden die Täter und Opfer des langwährenden Konflikts um Palästina und Israel einen Weg zur Aussöhnung finden.

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