Wie Israel zu kritisieren und zu verteidigen ist
Sich genau zu überlegen, wann man von Völkermord spricht und wann eher nicht, kann auch für den Laien nicht falsch sein. Es gibt das Völkerrecht, das wir heranziehen können. (Vgl. in diesem Zusammenhang das hinreißende Buch von Philippe Sands: Rückkehr nach Lemberg, 2. Auflage 2018, Verlag S. Fischer) Aber die Vorsicht, der Skrupel in der Wahl der Sprache, des Begriffs, sollte auch nicht unsere Spezialität als deutsche Beobachter des Gazakriegs bleiben. Als Deutsche, die unauslöschlich den Holocaust in ihrer Geschichte haben und es nicht vergessen wollen. Die Kriegsverbrechen der israelischen Armee an der Zivilbevölkerung im Gazastreifen sind so ungeheuerlich wie faktisch unbestreitbar. Die ganze Welt kennt sie. Kann sie seit mehr als einem ganzen Jahr in ihrer nackten, detaillierten Wirklichkeit verfolgen. Sieht sie in ihrem ganzen menschenverachtenden Ausmaß. So darf kein Staat handeln. Auch nicht im Krieg. Auch kein Staat, der sich wie Israel in seiner Existenz bedroht sieht und es auch tatsächlich ist. Auch nach dem einzigartigen Pogrom der Hamas vom 7.Oktober 2023 darf Israel so keinesfalls handeln. Seine gegenwärtige Regierung unter Benjamin Netanjahu handelt verbrecherisch. Sie muss im Interesse der Menschenrechte – im Interesse einer Weltordnung, die das Lebensrecht jedes einzelnen Menschen anerkennt und sichert – baldmöglichst entmachtet werden und gezwungen, sich vor einem zuständigen Gericht für ihre Entscheidungen verantworten.
Ich sage das, ich kann das nur sagen, weil mich der israelische Journalist Gideon Levy von der Zeitung „Haaretz“ dazu ermutigt. Ihm verdanke ich diese Klarheit. Oder sie wird, wenn ich bisher da noch unsicher war und geschwankt habe, mit seinen Texten für mich jetzt zwingend und unabweisbar. Es gibt im Gazakrieg kein „Dilemma“, von dem wir hier die ganze Zeit zu reden geneigt waren. Etwa so: Israel hat das unbezweifelbare Recht, sich zu verteidigen. Der Krieg ist von der Hamas ausgegangen. So zynisch es anmutet: Krieg ist Krieg. So schrecklich die Zehntausenden von Todesopfern sind, die niemand leugnet; die Hunderttausenden von Verletzten, Vertriebenen, mehrfach Vertriebenen, Ausgebombten, Entwurzelten, Mittellosen, Hungernden. Hamas als Militärmacht zu vernichten, ist ein zutiefst legitimes Ziel oder etwa nicht? Auch dieses islamistische Terror-Regime instrumentalisiert, missbraucht, opfert wie die ihm verwandten Gewaltdiktaturen gnadenlos die Massen seiner Untertanen für seinen ideologischen Wahn: in diesem Fall für seine kranken, ewigen Ausrottungskampf gegen die Juden und ihren Staat vor Ort. So ließe sich jenes vermeintliche „Dilemma“ umreißen, in dem auch ich mich verfangen habe. Gideon Levy zeigt uns in seinem kürzlich erschienenen Buch auf, dass es nichts als eine Ausflucht ist: „The Killing of Gaza. Reports on a Catastrophe“ (2024, London, New York, Verso)
Eine der Kernaussagen der hier versammelten Reportagen und Kolumnen ist: Nach dem Massaker vom Oktober 2023 gibt es in Israel keine Linke mehr. Die Linke löst sich immer zuallererst auf. Nach dem Schock hat sich ein Trauma herausgebildet, das die Israelis nahezu totalitär zusammenschweißt. Die israelischen Massenmedien, zumeist in privater Hand, berichten – „bis auf Haaretz und ein paar dissident websites“ – überhaupt nicht über die Katastrophe der Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Davon wissen die Juden des Landes so gut wie nichts. Nichts zum Beispiel von den tausenden Kindern, die in den umfassenden Bombardements sterben. Es sind für die Bürger Israels gegenwärtig zudem auch keine „Menschen“, wie man selbst einer ist. Wie die eigenen Kinder es sind. Jeder Fernsehzuschauer im fernen Oklahoma weiß über diese Kriegsführung mehr als die Israelis ein paar Kilometer nebenan.
Mehr noch: Die Israelis wollen davon offenbar auch gar nichts wissen. Die Zeitungen und Sender decken ausschließlich ab, was das breite Publikum hören will. So konsequent, so illiberal, so antidemokratisch selektiv, so rassistisch wie noch niemals zuvor in der Geschichte des Landes. In Summa: die jüdischen Israelis sehen nur sich selbst: die eigene Bedrohung, das eigene Leid, die eigenen Opfer, die Geiseln – immer noch in der Gewalt der Hamas. Die arabischen Israelis haben nur noch Existenzangst, sie ducken sich weg und verstummen.
Es ist anders als in den bisherigen Kriegen Israels, in denen sich jeweils – nach einer gewissen Zeit – gegenüber dem zunächst blockartigen Konsens die normale politische Pluralität wiederherstellte. Jetzt bleibt es bei der einen, homogenen Position und Sicht: Rache, Vernichtung des Feindes, Entmenschung der anderen, gewissermaßen restaurative Heroisierung der mit Massaker der Hamas ja zunächst massiv diskreditierten Armee. Was Gideon Levy hier vorlegt, ist die Analyse einer nahezu generellen psychisch-geistigen Regression, eines politisch- kulturellen Zusammenbruchs der gesamten israelischen Gesellschaft. Die aktuelle Selbstzerstörung der israelischen liberalen Demokratie – in der hier diagnostizierten extremen, hermetischen Selbstbezogenheit und geradezu steinern anmutenden Indifferenz der allermeisten Israelis gegenüber dem Schicksal der anderen Nation – geht danach viel weiter als der vor dem Krieg versuchte Coup der Regierung Netanjahu gegen die Gewaltenteilung es je hätte bewirken können.
Auch eine Israelkritik. Aber eine andere als jene, auf die wir uns hier ohne größere Probleme verständigen können. Eine Kritik, die das Land vor sich selber verteidigt. Eine, die Israel retten will. Keine, die zufrieden ist, wenn sie den Verdacht und Vorwurf auf Antisemitismus plausibel zurückweisen kann. Und auf gehörigen Abstand geht zu den neuen, schmutzigen Erscheinungsformen der Israelhetze von links und aus der Richtung des „Postkolonialismus“ – unser Mindeststandard.
Wer heute in Israel so etwas wie Anteilnahme an der Situation der Palästinenser in Gaza zeigt, kann leicht in den Verdacht der Komplizenschaft mit der Hamas geraten. Levy spricht hier von „McCarthyismus“ und sogar von „Faschismus“. Böse, verzweifelte Beobachtungen dieser Art machen das Buch zur politischen Prosa. Auch in unseren großen Tageszeitungen findet man anständige, schonungslose Berichte über die Auswirkungen des Gazakrieges auf die politische Entwicklung im Westjordanland: über aggressivere, destruktivere Interventionen der israelischen Armee, über die Brutalisierung bewaffneter Siedlergruppen. Aber bei Levy fügen sich diese Beobachtungen zu einem Bild des politischen Zerfalls und Umbruchs zusammen. Wir sehen uns hier mit einer Hellsicht, mit einem „Moralismus“ klassischen Niveaus konfrontiert, wie er seit der Aufklärung immer zuerst bei sich selbst, bei der eigenen Deformation, beim eigenen Wertezerfall ansetzt. Die zunehmenden Übergriffe der Armee in den besetzten Gebieten – darunter mehr und mehr auch solche ohne jeden realen Anlass – und die eigenmächtigen, rechtlosen, auch mit Lynchjustiz verknüpften Vertreibungsaktionen zum Teil uniformierter Siedler („Kriminelle in Uniform“) sind bei Gideon Levy bereits kombinierte, zusammenhängende, systematische Versuche, einen neuen, anderen Staat zu schaffen. Im Schatten, unter dem Vorwand, unter dem Deckmantel des Gazakrieges. In welcher auch seriösen deutschen Zeitung läse man so etwas?
Bekanntlich verfügt Israel freilich seit seinen Anfängen über eine große, bewunderungswürdige Tradition solcher fundamentaler, weitsichtiger Infragestellung seiner selbst – auch wenn Levy eingangs sagt, er fühle sich heute „so isoliert wie noch nie“. Aber er erwähnt doch Amira Hass, seine weltbekannte Kollegin bei „Haaretz“, die einst – als das einem israelischen Journalisten noch nicht von Staatswegen verboten war – in den Gazastreifen umgezogen ist. Sie hat damals den Schritt wie folgt begründet:
„Diese Geschichten waren das Vermächtnis meiner Eltern – eine Geschichte des Widerstands gegen jede Ungerechtigkeit, der offenen Meinungsäußerung und der Gegenwehr. Aber von all den Erinnerungen, die ich mir zu eigen gemacht habe, ist mir eine ganz besonders wichtig. An einem Sommertag des Jahres 1944 wurde meine Mutter zusammen mit der übrigen menschlichen Fracht aus einem Viehwagen ausgeladen, der sie von Belgrad zum Konzentrationslager Bergen-Belsen gebracht hatte. Als die seltsame Prozession vorbeimarschierte, sah sie eine Gruppe deutscher Frauen, einige zu Fuß, andere mit Fahrrädern, die stehenblieben und mit gleichgültiger Neugier in den Gesichtern zusahen. Für mich wurden diese Frauen zu einem abscheulichen Symbol des unbeteiligten Zusehens, und schon in sehr jugendlichem Alter beschloss ich, dass ich niemals zu dieser Art von Zuschauern gehören wollte. So war mein Wunsch, in Gaza zu wohnen, nicht auf Abenteuerlust oder Wahnsinn zurückzuführen, sondern auf die Angst, zu einem tatenlosen Zuschauer zu werden, auf mein Bedürfnis, eine Welt, die nach meinem besten politischen und historischen Wissen das Werk Israels ist, bis ins letzte Detail zu verstehen. Für mich verkörpert der Gazastreifen die ganze Geschichte des israelisch- palästinensischen Konflikts. Er verkörpert den zentralen Widerspruch des Staates Israel – Demokratie für die einen, Enteignung für die anderen. Es ist unser freiliegender Nerv.“
(Amira Hass, Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land, München 2003, Verlag C.H. Beck, S. 13)
Tim Koehler
1.12.2024, 19:41
Danke, Ernst, für den schönen und sehr integren Text. Aber glaubst du nicht, die israelische Demokratie wird Netanjahu überleben?Hast du übrigens den neuen Podcast des Osteuropaauschusses zum Thema Stalinismus gehört? Ich finde ihn extr
Christina Herbert-Fischer
1.12.2024, 21:53
Ich glaube daran, dass die israelische Demokratie überleben wird. Das Trauma der Judenvernichtung im 3. Reich ist ein furchtbares Hindernis und gleichzeitig der größte Garant, das dies gelingt. Ich bin voller Zuversicht und glaube an dieses Volk
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Christina Herbert-Fischer
1.12.2024, 20:06
Völkermord trifft wahrscheinlich auf den Überfall der Hamas zu und auf den Israelischen Staat, wobei die alleinige Anzahl der Opfer nicht das entscheidende Argument ist, um die Definition von Völkermord zu erfüllen. Es wird aufzuklären sein. Die derzeitige Regierung von Israel handelt möglicherweise nicht weniger verbrecherisch als die Hamas, weil bewusst, was nachzuweisen wäre. Dass in einer solchen Lage die Opposition verstummt und die Menschen verunsichert sind, sich als erstes als Opfer sehen, ist fast ein Automatismus, aber kein Dilemma. Der Staat Israel hat eine Existenzberechtigung und wir als Deutsche eine Verantwortung. Dazu gehört klare Kante zu zeigen und auf die derzeitige Regierung Druck auszuüben, notfalls auch vorübergehend die Unterstützung zu entziehen.
Die Balkankriege sind noch nicht so lange her und ich hatte damals hautnah erlebt, wie Kritiker der kroatischen Regierung unter Druck gesetzt wurden und sie sogar hier in Deutschland angegangen wurden. Es ist nicht einfach eine Parallele, das passiert immer wieder.
Ich stehe hinter dem Existenzrecht Israels, nicht hinter einem Unrechtsstaat. Ich widerspreche, das als Dilemma zu bezeichnen, ich widerspreche genauso, es sich einfach zu machen, weil die Opposition in Israel immer schwächer wird. Ich schaudere bei den Bildern aus Gaza, ich kann den Überfall im letzten Oktober mit seiner grenzenlosen Brutalität und Menschenverachtung nicht vergessen. Die Verantwortlichen auf beiden Seiten gehören vor ein Gericht gestellt, der UNO traue ich allerdings da so gar nichts zu, die sehe ich sehr einseitig, nicht erst seit Kurzem.
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