„Mit dem Angriff 2022 habe ich schlagartig aufgehört, als Filmregisseur zu arbeiten.“ (M. Welsch)

Peter Conzelmann

Ein Gespräch mit Marcus Welsch, Dokumentarfilmer und Datenanalyst

Marcus Welsch, geboren 1969 in Singen, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Regie, anschließend Mitarbeit in Spielfilmproduktionen unter anderem bei Volker Schlöndorff, Wolfgang Becker, Jean-Jacques Annaud und Roman Polanski.

Seit 2002 Dokumentarfilmregisseur für ARTE, RBB, SWR, MDR unter anderem mit den Filmen „Katharina Bullin“ (Berlinale 2006), „Landschaftsgeschichten“ (2012 Nominierung Longlist Deutscher Dokumentarfilmpreis). Sein Film „Der Chronist“ (2019) zeigt die lokale Aufarbeitung der NS-Zwangsarbeiter-Geschichte im Hegau und deren Bedeutung für die Ukraine und Polen. In weiteren Reportagen und Filmarbeiten beschäftigte er sich mit Themen in Finnland, Serbien, USA, Bosnien, Kroatien, Kosovo, Ukraine und Polen.

Neben Osteuropa und Erinnerungskultur sind aktuelle Schwerpunkte seiner Arbeit die Sicherheitspolitik sowie Datenanalysen auf OSINT-Basis (Open Source Intelligence) zu dem Krieg in der Ukraine. Er analysiert seit 2014 den Konflikt mit Russland und der deutschen Debatte darüber. Zuletzt sind von ihm Analysen zum Bedarf der Unterstützung der Ukraine, dem Potential und Grenzen von Sanktionen und Munitionslieferungen an die Ukraine sowie den TV-Debatten in Deutschland zum Krieg erschienen.

Marcus Welsch lebt und arbeitet in Berlin.

Am Donnerstag, 28.11.2024, fand eine von Marcus Welsch organisierte und gut besuchte Veranstaltung zum Thema „Bleibt Europa ein sicherer Ort? Was muss sich in der Sicherheitspolitik ändern, damit wir auch in Zukunft in Frieden leben können“ im Astoria-Saal in Konstanz statt. Wir haben in unserem Blog einen Veranstaltungshinweis veröffentlicht. Neben Marcus Welsch auf dem Podium saß mit Dr. András Rácz auch einer der besten Kenner der russischen Militär- und Rüstungsstrategie und international versierter Experte für Militär- und Sicherheitspolitik; vielen ist er durch seine wöchentlichen Einschätzungen und Reports auf den Webseiten des ZDFs und der DGAP bekannt. 

Peter Conzelmann (PC): Herr Welsch, Sie sind von Hause aus Filmemacher und als solcher bekannt geworden durch Dokumentarfilme. Hier geht es um die Visualisierung von Themen. Andererseits sind Sie Datenanalyst, betreiben eine Art Grundlagenforschung. Wie hängen die beiden Arbeitsbereiche zusammen, wann und wie kam das eine zum anderen, und wie beeinflusst die Datenanalyse Ihre Arbeit als Dokumentarfilmer?

Marcus Welsch (MW): Ich bin zur Datenanalyse wie die Jungfrau zum Kind gekommen. Die letzten zwei Jahrzehnte habe ich als Dokumentarfilmer und gearbeitet. Es kamen in der Zeit auch kleinere journalistische Arbeiten hinzu. So kam übrigens auch mein Kontakt zu Ernst Köhler zustande, nämlich über eine Zeitschrift, für die wir beide schrieben. Wir haben uns dann auf einer Reise in Albanien besser kennengelernt. Uns verbindet das gemeinsame Interesse für Außenpolitik, speziell bezüglich des Balkans.

Der Kriegsbeginn in der Ukraine 2022 hat mich – wie viele – kalt überrascht. Aber schon ab 2014 habe ich mich darum bemüht, dass man in Deutschland sehr viel mehr mitbekommt über diesen Konflikt mit Russland. Ich habe dazu viele Konferenzen und Hintergrundgespräche geführt, um mir ein besseres Wissen anzueignen. Ich konnte das aber nicht in meine dokumentarfilmerische Arbeit einbauen, da entsprechende Ideen von den TV-Anstalten, für die ich arbeitete, abgelehnt wurden, zum Beispiel auch ein Projekt über den ukrainischen Schriftsteller Serhij Zhadan, der den Friedenspreis des deutschen Buchhandels 2022 bekam. Zhadan hat mit großen Essays, insbesondere in NZZ und FAZ, auf den Konflikt hingewiesen. Aber es wurde weitgehend ignoriert, was in der Ukraine ab 2014 passiert ist, als Russland seinen hybriden Krieg begann. Mich hingegen hat das Thema nicht mehr losgelassen.

Mit dem Angriff 2022 habe ich schlagartig aufgehört, als Filmregisseur zu arbeiten. Ich war mit Herz und Kopf in der Ukraine, und mir war klar, dass ich mit Beginn dieses Krieges so nicht mehr arbeiten konnte, denn das sind andere Wellen beziehungsweise Aufmerksamkeitsbögen, die man als Dokumentarfilmer im Blick hat. Man ist nicht im Tagesaktuellen. Wenn man sich mit dem Krieg intensiver beschäftigt, muss das jedoch sein. Ich habe deswegen meine Arbeitsweise komplett geändert. Anfangs habe ich in einem Blog geschrieben, bei den „Salonkolumnisten“, und habe mit Serhij Zhadan das Buch „Himmel über Charkiw“ herausgebracht, erschienen bei Suhrkamp. Durch die Arbeit an dem Buch hat sich gezeigt, dass es wichtiger ist, über das Aktuelle zu schreiben. Dabei fiel mir auch auf, dass das Wissen über den Krieg in Deutschland sehr gering ist. Auch ist die Kultur im Journalismus bei uns nicht so entwickelt, dass man über die Zusammenhänge und Hintergründe viel weiß, anders jedenfalls als in den angelsächsischen Ländern oder in Skandinavien sowie dem Baltikum und Polen.

So habe ich begonnen, mich auch mit Daten zum Krieg bzw. diesem Konflikt mit Russland zu beschäftigen. Ich habe zuerst etwas über Talkshows gemacht, um eine empirische Grundlage zu schaffen, die zur Klärung beitragen kann, was da alles schiefgelaufen ist. Zum Beispiel, indem man die Einladungspolitik des öffentlichen Fernsehens ab 2014 untersucht hat. Ab 2022 habe ich mich mit OSINT-Ansätzen beschäftigt, mit offenen Kanälen also, wo man zum Beispiel aus Satellitenbildern Rückschlüsse ziehen kann oder was Experten direkt aus den Schilderungen von Soldaten berichten und für Schlüsse ziehen. Aus der OSINT-Arbeit ist dann die eigentliche Journalistenarbeit entstanden. Wichtig hierbei war insbesondere die Frage nach den Parametern, die entscheidend sind für den Krieg. Hier zeigte sich nämlich, dass es ein Artillerie-Krieg ist. Wenn die Ukraine hier nicht unterstützt wird, verliert sie den Krieg. Aktuell beschäftige ich mich mit dem Thema Luftkrieg.

PC: Das, was Sie beschreiben, ist doch Grundlagenarbeit für guten Journalismus. Nun arbeiten Sie allerdings nicht für eine große Redaktion, sondern sind eine Art Einzelkämpfer, oder wie muss man sich das vorstellen? Sind Sie irgendwo angestellt, oder so gefragt: Können Sie von dieser Arbeit leben?

MW: Ich habe mich erst mal ein Jahr lang orientieren müssen. Auf einer Weihnachtsfeier habe ich dann zufällig einen SPIEGEL-Redakteur getroffen. Der hat zugegeben, dass solche Grundlagenarbeit, wie ich sie betrieb, in seiner Redaktion nicht geleistet wird. Ich war so geschockt, dass ich dachte, das kann doch nicht wahr sein! Mich hat es hingegen motiviert, das Ganze weiter auszubauen. Aber es ist, ehrlich gesagt, totale Selbstausbeutung. Diese Datenanalyse zu betreiben, ist extrem zeitaufwändig. Man muss auch wissen, dass die OSINT-Kanäle ziemlich unübersichtlich sind. Hier kann jeder schreiben, der meint, etwas zu sagen zu haben. Die Frage ist also, wie man dort Qualität erkennt. Ich hatte das Glück, dass ich am Anfang ein paar sehr gute Hinweise auf Quellen im OSINT bekam, zum Beispiel der Luftkriegsexperte Tom Cooper, der ehemalige US-Offizier Donald Hill oder Konrad Muzyka von Rochan Consulting in Danzig. Dessen Reports wurden von New York Times und Washington Post genutzt, auch der SPIEGEL hat die Arbeit der Sattelitenaufklärung von Muzyka erwähnt. Aber bezahlt wurde diese Arbeit kaum. Und wenn man über Abos versucht, sich damit zu finanzieren, bleibt das eine haarige Sache. Deswegen haben einige diese wichtige Arbeit eingestellt. Wir haben ein grundsätzliches Problem in Bezug auf Qualitäts-Medien. Es wollen alle alles kostenlos haben. Der Wert dieser Arbeit wird selten von Institutionen abgesichert. Ein großer Fehler.

Auch ich habe diese Arbeit praktisch zwei Jahre lang ohne Geld gemacht. Ich wurde dafür auch ausgelacht, und manche der Ukraine unterstützende Vereinigungen wollen bis heute nichts davon wissen. Ich war auch überrascht. Es geht doch um den Krieg. Aber die Zeitenwende hat hier nicht stattgefunden. Viele Förderprogramme laufen so wie immer. Für die Vermittlung militärischen Sachverstand gibt es keine oder kaum öffentliche Gelder. Dabei fehlt es an Wissen genau auf diesem Gebiet.

Ende 2023 habe ich dann eine Institution in Berlin gefunden, die seit rund 20 Jahren den Austausch der Ukraine-Informationen vorangebracht hat und die diese Arbeit unterstützen wollte: die „Kyjiwer-Gespräche“. Die haben sich insbesondere durch die großen Jahreskonferenzen zur Ukraine einen Namen gemacht und mich als Rechercheur unterstützt. In diesem Kontext habe wir dann zum Thema Sanktionen zusammengearbeitet, mit Leuten wie Benjamin Hilgenstock und anderen Experten aus der Ukraine. Außerdem erstellen wir jetzt aus den Daten-Analysen monatlich einen Luftkriegsmonitor mit Empfehlungen an die Politik. Den kann man hier (kostenlos) bestellen.

PC: Ist das, was Sie da beschreiben über die journalistische Szene, ein Nicht-Wissen-Können oder nicht vielmehr ein Nicht-Wissen-Wollen oder gar schon eine Art von Verdrängung von Fakten, die einen in der Komfortzone nur stören?

MW: Ich bin der Überzeugung, dass die großen Zeitungen eigentlich eine sehr gute Ukraine-Berichterstattung machen. Da könnte sich so manche TV-Redaktion eine Scheibe von abschneiden. Aber wenn es zur Frage der Investition in breiterer Recherchearbeit kommt, betritt man dünnes Eis. Das kostet halt. Ich bin mir auch nicht sicher, wie sich das in Zukunft entwickelt. Gerade bei jüngeren Kollegen habe ich den Eindruck, dass sie denken, sie könnten mit ChatGPT die Recherchearbeit insbesondere auf dem empirischen Gebiet abkürzen. Das ist m.E. ein großer Irrtum und Gefahr.

Das aktuelle Problem, das wir in Deutschland haben, hängt mit der Frage zusammen, warum wir keine echte sicherheitspolitische Forschung zugelassen haben, die echte sicherheitspolitische Strategien hervorgebracht haben. Das ist auch ein Problem an deutschen Universitäten. Es müsste darüber hinaus im universitären Kontext eine bessere Wissensbasis aufgebaut werden. Auch an Friedensforschungsinstituten, bei denen ich die Publikationslisten der letzten Jahre durchgegangen bin, war ich ernüchtert über das geringe Wissen zum Konflikt mit Russland, und dem Ukraine-Krieg, der seit 2014 geführt wird. Da ist man auf diesem Feld (neben den USA, die eine ganz andere Kultur pflegen) auch in Skandinavien, Großbritannien, dem Baltikum und Polen sehr viel besser aufgestellt. Das Defizit auf deutscher Seite, im Hinblick auf strategische Fragen, ist sehr groß. Hier hat die friedensbewegte Gesamt-Gestimmtheit dieses Landes offensichtlich einen großen Schaden angerichtet.

Ich kann es nur wiederholen, der Journalismus in Deutschland ist auf einem besseren Niveau, als wie es die Medien-Verdrossenheit mancher Zeitgenossen widerspiegelt. Das Problem, das 2014 nach der russischen Besetzung der Krim spätestens begann, ist die Naivität im Umgang mit „alternativen Wahrheiten“ und „Meinungen“, die im großen Stil mit russischem Geld in Troll-Farmen und Computer generiert erst geschaffen wurden. Das ließ man viel zu lange laufen. Man war zum Beispiel darauf fokussiert, rassistische Kommentare aus Leserkommentaren auszufiltern, aber nicht gefakte Informationen aus den Troll-Fabriken die in Sankt Petersburg für den Propagandakrieg gegen die Ukraine entworfen wurden. Nicht wenige Medienhäuser wollten damals wirklich alles für eine „Leserbindung“ tun, und ließen diese ungefilterten Meinungen in den digitalen Kommentarfunktionen zu. Das hat nichts mit der guten Tradition von Leserzuschriften zu tun. Man hat viel zu spät diesen gut orchestrierte Propaganda-Strategien einen Riegel vorgeschoben, die bewusst Desinformation betrieben haben. Hier hat so mancher Verlagschef am Ast unserer Demokratie gesägt.

PC: In der Veranstaltung am 28. November haben Sie auch auf die diversen Mythen in er Öffentlichkeit in Bezug auf den Krieg gegen die Ukraine hingewiesen, Mythen, die zerstört werden müssen, Mythen, die auch über die Medien weitergetragen werden. Im Rahmen Ihrer Datenanalyse beschäftigen Sie sich auch, wie vorhin erwähnt, mit Talkshows im deutschen Fernsehen. Wie gehen Sie hier vor und was lässt sich auf diese Weise über die Öffentlichkeit in Deutschland beobachten?

MW: Ja, wir haben alle Debatten zu Russland und der Ukraine zwischen 2014 und 2023 im öffentlich-rechtlichen Fernsehen erfasst und ausgewertet.*

PC: Wie hat sich in diesem Zeitraum die Debatten-Kultur verändert? Sind die Deutschen, wie man immer wieder hört, dieses Themas überdrüssig?

MW: Ich habe ein gewisses Verständnis dafür, dass man nach 1000 Tagen Krieg bestimmte Nachrichten nicht mehr hören kann, dass die Aufnahmefähigkeit nachlässt. Für den Journalismus ist das natürlich ein Problem, über etwas zu berichten, das sich tagesaktuell gesehen sehr oft gleicht, also zum Beispiel die Drohnen- und Raketenangriffe der russischen Seite.

In der Debatte sehe ich insgesamt drei große Defizite, die etwas zu tun haben mit den drei Mythen, mit denen gerade wir Deutschen zu tun haben:

1.) Man könne die russische Armee nicht schlagen. Beziehungsweise man will sie nicht schlagen, aufgrund unserer Geschichte im Zusammenhang mit dem Überfall auf die Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs. Aber hier vergleicht man Äpfel mit Birnen und begeht eine zynische Täter-Opfer-Umkehrung. Hier hat auch unsere Erinnerungspolitik versagt. In unseren Nachbarländern spricht man ganz anders darüber. Gerade im Baltikum, die aufgrund der unmittelbaren Nähe zu Russland eigentlich allen Grund der Angst und Sorge hätten, beweist man viel mehr Realismus und Mut und warnt auch davor, Russland für zu stark einzustufen.

2.) Es gehe nur um die Ukraine. Also das Verkennen der Tatsache, dass die Bedrohung durch Russland sich sehr wohl auch auf das Baltikum bezieht beziehungsweise auf eine Neuaufteilung Europas. Man glaubt daher, dass, wenn man irgendeine Friedenslösung durch Verhandlungen hinbekommt, wie auch immer, dass das Problem dann gebannt ist. Das passt aber nicht zu den öffentlich geäußerten Kriegszielen und Verlautbarungen Russlands, zu denen wir auch eine Datenbank aufgebaut haben. Es ist reines deutsches Wunschdenken, dass Russland in irgendeiner Weise einlenkt beziehungsweise von seinen maximalen Kriegszielen abrückt oder nie in Betracht ziehen wird, die ehemals zur Sowjetunion gehörenden baltischen Länder sich einzuverleiben.

3.) Es sei zu gefährlich, wenn man Russland substantiell schwächt beziehungsweise wenn Russland den Krieg verlieren würde. Es ist umgekehrt. Russland ist nach den verlorenen Kriegen wie 1856 (Krimkrieg), gegen Japan 1905 oder dem Desaster in Afghanistan 1989 eher zu Reformen bereit gewesen, als wenn es siegreich sein Imperium erweitert hat. Außerdem ist die Sorge vor der Instabilität eines Machtwechsels etwas seltsam. Putin wird eines Tages sterben. Das können auch die Politiker, die sich vor einem Machtwechsel fürchten nicht verhindern.

Es kommen noch zwei weitere Kardinal-Fehler in der deutschen Debatte hinzu:

Zum einen das Verhandlungsdogma, also, dass man den Konflikt allein mit Verhandlungen lösen könne. Zum anderen die Rhetorik der roten Linie und die falsche Benutzung des Begriffs der Eskalation.

Letzteres kreide ich tatsächlich manchen deutschen Journalismus an, weil der Begriff angesichts der realen Abläufe dieses Krieges vollkommen sinnentleert verwendet wird. Die Leute die diesen Begriff ständig benutzen, beschäftigen sich einfach nicht mit der Komplexität dieses Krieges. Russland operiert ständig am Limit seiner Fähigkeiten. Der Begriff „Eskalation“ ist vollkommen fehlangebracht. Er unterstützt eine Art Angst in Deutschland, die mir so vorkommt, als wolle man vor allem vor der eigenen Verantwortung flüchten. Die Rhetorik der Eskalation nützt vor allem Russland. Sie fungiert wie eine Drohkulisse nach dem Motto: „Wenn ihr die Waffen schickt, dann …“. Da fallen nicht wenige im deutschen (vor allem) TV-Journalismus drauf herein. Hier offenbaren sich deutliche Defizite in der Analyse des Krieges.

PC: Will man diese Analyse nicht?

MW: Das Nicht-Wollen vermute ich eher in den Talkshows. Im Print-Journalismus sehe ich das anders. Dort, wo man erfahrene Korrespondenten ihre Arbeit machen ließ ohne sie nur kurzfristig ein- oder auszufliegen, gelang m.E. sehr guter Journalismus. Ein erfahrener Korrespondent in Osteuropa hat mir einmal erklärt, dass man etwas drei Jahre braucht, um ein Land so gut zu kennen, dass man das Spiel hinter den Kulissen durchschaut. Das fehlt manchmal, wenn man sich Brennpunkt-Sendungen mancher TV-Stationen ansieht.

Der ein oder andere TV-Moderator mag auch geneigt sein, einen gewissen Populismus zu bedienen. Aber das muss man von Fall zu Fall anschauen. Es rächt sich aber generell, dass man so manche Talkshow bei den öffentlich-rechtlichen früh outgesourct hat. Die Kompetenz zu auslandspolitischen Themen war lange Jahre ein Problem. Und zwar nicht wegen dem Fall Hubert Seipel, auf den viele hereingefallen sind, obwohl es schon früh nach einem falschen Spiel roch.

Seit 2022 hat sich viel verbessert. Das sieht man auch an der Einladungspraxis. Aber zwischen 2014 und 2022 kann man fast von einem systematischen Versagen sprechen. Und dass man Sarah Wagenknecht in den letzten Jahren systematisch in den Talkshows aufgebaut hat – ohne dass sie sich in der Debatte durch Kompetenz bewiesen hätte – bleibt eine der Todsünden des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.

PC: Kanzler Olaf Scholz hat soeben die Ukraine besucht. Er wurde dabei von Präsident Selenskyj begrüßt, wie die Medien vermeldeten, erstmals mit militärischen Ehren für einen Staatsgast aus dem Westen. Wie schätzen Sie diesen Besuch und seine mediale sowie seine konkret auf die Unterstützung der Ukraine bezogene Wirkung ein? Zeichnet sich ab, dass sich der bisher zurückhaltende und „besonnene“ Scholz aufgrund des Wahlkampfes anders in der Ukraine-Frage aufstellen wird?

MW: Es war der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev, der am 14. November 2024 auf einem Podium in Berlin, der „Kjiwer Gesprächen“, in kritischer Absicht auf den Begriff „Besonnenheit“ im Zusammenhang mit Scholz angespielt und als „Unwort des Jahres“ bezeichnet hat. Sein Gegenbegriff hierzu ist „Leadership“. Die würde Scholz und so manchem Politiker hierzulande fehlen. Was Olaf Scholz‘ Politikstil betrifft, habe ich eine Aussage aus dem Umfeld von Angela Merkel im Kopf, die einiges erklärt: Scholz lege sich früh fest und ändere dann seine Meinung nicht mehr. Offenbar ändert er sie auch nicht, wenn er ersichtlich falsch liegt, wie zum Beispiel bei den Taurus-Lieferungen. Sicherlich befindet sich Scholz aktuell im Wahlkampfmodus, und in diesem Licht muss man auch den Besuch in der Ukraine werten. Dabei hat er stets zwei Adressaten zu bedienen: 1.) Die, die sich Sorgen machen um die Ukraine, mit der Aussage: „Wir unterstützen die Ukraine“; 2.) den alten SPD-Wählerstamm, dem Friedenspolitik das Wichtigste ist, mit der Aussage: „Keine Taurus-Lieferung“.

Es gab in der Ukraine schöne Bilder für die Öffentlichkeit. Entscheidend ist aber, was hinter verschlossenen Türen zu klären war. Davon wissen wir wenig. Fragte er nach der Kompromissbereitschaft Selenskyjs? Sicherlich ist der anstehende Wahlkampf für Scholz nicht einfach. Scholz ist kein Putin-Anhänger, und er weiß, dass die Lage in der Ukraine prekär ist. Und vermutlich wird sich Scholz auch fragen, wie er in die Geschichte eingehen wird. Im Moment geht es um Wahlkampf. Es gibt aber ein generelles Problem: Es ist die schwache Position Scholz innerhalb der SPD. Die Fraktionsführer im Bundestag haben ein großes Gewicht, das prägt auch den Diskurs. Ganz generell muss man sagen, dass sich die SPD ihrer Geschichte im Zusammenhang mit der Entwicklung in Osteuropa nicht kritisch gestellt hat, und eine diesbezügliche Aufarbeitung fehlt, wie dies der Historiker und SPD-Mitglied Jan. C. Behrends gefordert hat. Woran es deswegen vor allem mangelt, ist die Illusionslosigkeit gegenüber Russland, und es werden die durchaus komplexen Zusammenhänge nicht erkannt und hieraus nicht die richtigen Schlüsse gezogen, um den Krieg zu beenden. Stattdessen wurschtelt man sich durch und bezieht nicht klar Position. Im Grunde hat man keine echte Strategie, um den Krieg zu beenden. Das war ein generelles Problem auch in der Administration Biden. Man macht es Putin und seiner Kriegsführung zu einfach. Es gibt wenig Überraschungsmomente für ihn. Man muss die Ukraine aber in eine strategische Offensive bringen, wenn man den Krieg mit halbwegs erträglichen Bedingungen für Europa beenden will.  Dazu muss man Putin in eine Situation bringen, Fehler zu begehen – wie dies kürzlich einer der klügsten Köpfe des Bundeswehr Thinktank GIDS, Hendrik Remmel, auf einer Veranstaltung in Hamburg erklärt hat.

 Im Krieg ist der Faktor Zeit entscheidend. Das Zögern und Lavieren bringen allein Russland Vorteile. Daran zeigen sich ganz allgemein unsere Hauptprobleme in Deutschland: Wir beschäftigen uns zu sehr mit uns selbst und stimmen uns immer noch zu wenig mit den progressiven Partnern ab, vor allem mit Nordeuropa, den Thinktanks und Beratern in Polen und dem Baltikum. Grundsätzlich muss man auch sagen: Das Vakuum, bis eine neue deutsche Regierung fest im Sattel ist, ist gefährlich. Zumal auch die neue US-Administration in einer Umstellungsphase ist. Der Kreml wird das sicher ausnutzen.

PC: Die Veranstaltung am 28.11. in Konstanz stieß auf eine sehr positive Resonanz beim Publikum. Wie nehmen Sie allgemein die Publikumsreaktionen wahr, wenn Sie sich auf Podien begeben? Kann man Unterschiede feststellen, was die deutschen Regionen oder die Struktur der Veranstaltungsorte (Metropole oder Provinz, größere oder kleinere Kommune) anbelangt?

MW.: Ich habe beim Filmemachen stets die Haltung gehabt: Es gibt keine Provinz, sondern überall die gleiche Frage, wie können wir verantwortlich handeln. Für mich war die Veranstaltung in Konstanz sehr positiv, es hat sich bestätigt, dass man in dieser Stadt eine Top-Veranstaltung machen kann. Wichtig ist mir auch, dass die Diskussion im öffentlichen Raum nach wie vor funktioniert trotz social media. Man erreicht Leute, die sich mit solchen Themen auseinandersetzen und das Geschehen einsortieren möchten. Das Publikum in Konstanz war gut, man konnte offen diskutieren. Natürlich gab es nach Ende des offiziellen Teils auch das Feedback, dass wir die Schuld des Westens nicht dargestellt hätten, und es wurden Haltungen gezeigt, die an Kalendersprüche erinnern, wonach jedes Ding zwei Seiten hat und so weiter. Das erleben wir öfter.

Schaut man aber in die Ukraine dann lernt man das Gegenteil, so wie es der Anti-Held in Serhij Zhadans Anti-Kriegs-Roman „Das Internat“ beweist: Man kann auch als unpolitischer Mensch, der sich allen gesellschaftlichen Fragen am liebsten entziehen will, eines Tages Verantwortung lernen. Auch wenn das immer mit großen Mühen versehen ist. Aber das ist ja nichts neues, wie Albert Camus, einer meiner Lieblingsautoren, schon früher festgestellt hat: „Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

PC: Vielen Dank für das Gespräch!

* https://laender-analysen.de/ukraine-analysen/289/russlands-aggression-gegenueber-der-ukraine-in-den-deutschen-talkshows-2013-2023-eine-empirische-analyse-der-studiogaeste/

Das Gespräch wurde am 4. Dezember 2024 geführt.

  • Christina Herbert-Fischer

    9.12.2024, 21:50

    Danke für den interessanten Beitrag, es ist eine Freude und echte Bereicherung , dass es euch gibt. Mein Mann, von mir angestiftet, liest euch mittlerweile auch mit großem Interesse. Es geht für mich nicht darum, ob ich allem ganz genauso zustimme und mich bestätigt fühle, es geht darum, dass ihr eine wirklich tolle Arbeit macht, die Qualität hat. Daumen hoch für „Zeitenwende“.

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