Timothy Snyders „Bloodlands“ – 2010 und heute

Peter Conzelmann

Das Buch „Bloodlands: Europe Between Hitler and Stalin“ erschien 2010 bei Basic Books in New York; 2011 kam bei C.H.Beck in München die deutsche Ausgabe unter dem Titel „Bloodlands: Europa zwischen Hitler und Stalin“ heraus. Sein Autor Timothy Snyder, 1969 geborener, an der Yale-Universität lehrender US-amerikanischer Historiker, schildert in diesem umfangreichen, nicht an ein Fachpublikum gerichteten Werk die Massenmorde vor und während des Zweiten Weltkriegs in den von Nazi-Deutschland und der Sowjetunion okkupierten und kontrollierten Gebieten Osteuropas.

Die weltweite Rezeption der „Bloodlands“ – der Titel des Buches wurde zu einem stehenden Begriff – war auch der Grundstein für die Reputation Snyders, die er heute weit über die Fachgrenzen der Geschichtsschreibung im Zusammenhang mit der Bewertung der Vorgänge in Osteuropa genießt. Das Buch wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter 2013 mit dem Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken. Es löste, nicht nur unter Historikern, große, teils kontroverse und bis heute anhaltende Diskussionen aus.

Snyders Ansatz hat auch Spuren im Diskurs unseres „Zeitenwende“-Kreises hinterlassen, mehr noch, sein Buch war in mancherlei Hinsicht Auslöser dafür, uns intensiver mit Osteuropa, vor allem der Ukraine und der russischen Aggression gegen dieses Land zu beschäftigen. Es war eine Grundlage, Geschichte und Gegenwart dieses Landes, das uns nah und doch so fern schien, besser zu verstehen und die Auseinandersetzung mit seinem Nachbarn Russland einordnen zu können.

Zum Inhalt

Snyder bezeichnet mit „Bloodlands“ die heutigen Länder Polen, Weißrussland, Ukraine und die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, außerdem den Nordosten Rumäniens und die westlichsten Randgebiete Russlands. Snyder untersucht den politischen, kulturellen und ideologischen Kontext der Massenmorde an schätzungsweise 14 Millionen Nicht-Kombattanten, begangen von Joseph Stalins Sowjetunion und Adolf Hitlers Nazi-Deutschland in den Jahren zwischen 1933 und 1945, Massenmorde, die außerhalb der Vernichtungs- und sonstigen Lager des Holocaust stattfanden. Von Gesamtzahl an Opfern, die Snyder detailreich dokumentiert, sind etwa zwei Drittel durch Nazi-Deutschland zu verantworten.

Snyders Hauptthese lautet: In dieser von ihm „Bloodlands“ genannten Region interagierten die Regime Stalins und Hitlers trotz ihrer widersprüchlichen Ziele auf spezifische Weise, wodurch das Schlachten und das Blutvergießen in einem größeren Umfang stattfanden, als wenn die beiden Regime unabhängig voneinander agiert hätten. Snyder erkennt zudem, bei allen ideologischen Unterschieden, auch Ähnlichkeiten zwischen den beiden totalitären Regimen. Die „Bloodlands“ sind somit das Gebiet, in dem Hitlers Vision von Rassenüberlegenheit und „Lebensraum“, die zur „Endlösung“ und anderen Gräueltaten der Nazis führte – manchmal im Konflikt, manchmal in Zusammenarbeit – mit Stalins Vision einer kommunistischen Ideologie zusammentraf.

Snyder untermauert seine These von der Interaktion zwischen dem Nazi- und dem Sowjetregime unter anderem mit dem Umstand, dass auf die anfängliche sowjetische Unterstützung des Warschauer Aufstands (1. August bis zum 2. Oktober 1944) gegen die Nazi-Besatzung eingestellt wurde, weil die Sowjets damit rechneten, dass die Nazis auf diese Weise potenzielle Widerstandsquellen gegen eine spätere sowjetische Besatzung in Polen beseitigen werden. Snyder beschreibt auch, wie die beiden Regime vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion im Jahr 1941 häufig zusammenarbeiteten und sich gegenseitig unterstützten, beispielsweise bei den Gestapo-NKWD-Konferenzen.

Ein weiterer wichtiger Ansatz Snyders ist, dass die meisten Morde, insbesondere im Zusammenhang mit dem Genozid an den Juden, nicht innerhalb der Lager stattfand, sondern außerhalb, sehr oft unter freiem Himmel. Ebenso wurden die Mehrheit der sowjetischen Opfer außerhalb des Konzentrationslagersystems Gulag getötet. Dies konterkariert den im Westen geläufigen Mythos der Vernichtungslager, insbesondere bezüglich Ausschwitz, als primäre Orte des Holocaust.

Snyder untersuchte für sein Werk zahlreiche historische Details der Kriegs- und Nachkriegsjahre erneut, so zum Beispiel den Molotow-Ribbentrop-Pakt von 1939, die Rettung von Juden durch Polen während des Holocausts sowie die sowjetische Verfolgung des polnischen Untergrundstaates. Ein eigenes Kapitel widmet Snyder der – heute vielfach „Holodomor“ genannten – Hungersnot in der Ukraine zu Beginn der 1930er-Jahre, die 3,3 Millionen Menschen das Leben kostete. Auch die Nazis setzten den Entzug von Nahrung als Waffe ein: Im Rahmen seines „Hungerplans“, einer zentralen, agrarpolitisch angelegten Strategie im Rahmen des von den Nazis entwickelten „Generalplans Ost“ zur Dezimierung der Bevölkerung, ließ Hitler 4,2 Millionen Menschen in der Sowjetunion verhungern, hauptsächlich Ukrainer, Weißrussen und Russen.

Snyder führt aus, dass die westlichen Alliierten, nachdem sie sich mit Stalin gegen Hitler verbündet hatten, nach Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr den Willen hatten, gegen das zweite totalitäre Regime zu kämpfen. Da amerikanische und britische Soldaten Osteuropa nie betraten, blieb die Tragödie dieser Länder der amerikanischen oder britischen Bevölkerung weitgehend unbekannt. Dieser Aspekt mag die breite und positive Resonanz auf Snyders Werk in der englischsprachigen Welt erklären, die insbesondere dessen innovativen Aspekte erkannten.

Im Folgenden bezieht sich der Begriff „Bloodlands“ sowohl auf das Werk als auch den in diesem Werk so bezeichneten Raum.

Rezeption und kritische Auseinandersetzung nach dem Erscheinen

„Bloodlands“ erzielte eine breite Resonanz, nicht nur in der Fachwelt, sondern auch in der allgemeinen Öffentlichkeit. Das Buch wurde in über 20 Sprachen übersetzt und erzielte für ein historiographisches Werk hohe Auflagen. Nahezu alle wichtigen Presseorgane brachten Rezensionen, insbesondere in der englisch- und deutschsprachigen Welt.

Das Werk löste eine, wie oben erwähnt, kontroverse Debatte, nicht nur unter Historikern, aus. So wurde neben der Darstellung der Chronologie der Ereignisse vor allem die willkürliche geografische Abgrenzung moniert. Der Begriff „Bloodlands“ – der deutsche Verlag entschied sich, diesen Begriff nicht ins Deutsche zu übersetzen – bezeichne keinen konkret definierten geographischen Raum, sondern sei eine willkürliche und metaphorisch aufgeladene Setzung des Autors.

Mehr als provokant fanden einige Rezensenten, so zum Beispiel Richard J. Evans in der „London Review of Books“ vom 4. November 2010, vor allem, dass

„(…) Snyders Buch aufgrund des Mangels an Kausalargumenten nutzlos ist. (…) Es scheint mir, dass er den Völkermord der Nazis einfach mit den Massenmorden in der Sowjetunion unter Stalin gleichsetzt.“

In einem Artikel für die „Slavic Review“ vom Sommer 2011 schrieb Omer Bartov, dass „Bloodlands“ zwar eine „bewundernswerte Synthese“ darstelle, dennoch aber keine neuen Beweise präsentiere und keine neuen Argumente vorbringe. Daneben moniert er, dass das Buch „von einer konsequenten pro-polnischen Tendenz durchdrungen“ sei und dunklere Aspekte der polnisch-jüdischen Beziehungen ausblende. Snyders Betonung der deutschen und sowjetischen Besatzungspolitik beschönige die interethnische Gewalt.

Bartov fügt an:

„Durch Gleichsetzung von Partisanen und Besatzern, sowjetischer und Nazi-Besatzung, Wehrmachts- und Rote-Armee-Kriminalität und durch die Vermeidung interethnischer Gewalt entzieht Snyder dem Krieg einen Großteil seines moralischen Inhalts und übernimmt unbeabsichtigt das Argument der Apologeten, dass dort, wo jeder ein Verbrecher ist, niemandem die Schuld gegeben werden kann.“

Die Zeitschrift „Contemporary European History“ veröffentlichte im Mai 2012 ein spezielles Forum zum Buch mit Rezensionen von Jörg Baberowski, Dan Diner, Thomas Kühne und Mark Mazower sowie einer Einführung und Antwort von Timothy Snyder.

Kühne erklärte an dieser Stelle mit einem deutlichen Verweis auf den deutschen „Historikerstreit“:

„Snyder ist nicht der Erste, der darüber nachdenkt, was Hitler und Stalin gemeinsam hatten und wie ihre mörderische Politik miteinander zusammenhing. Je mehr ihre Arbeit auf Widerstand oder sogar Ablehnung stieß, desto prominenter und umstrittener war der Versuch des Deutschen Ernst Nolte in den 1980er Jahren, sowjetische und nationalsozialistische Verbrechen miteinander zu verknüpfen, heute wie damals.“

Kühne ergänzt:

„Da es (i. e. „Bloodlands“, P.C.) die Verantwortung der Nazis und ihrer Kollaborateure, Unterstützer und Claqueure zu verringern scheint, wird es in rechten Kreisen verschiedener Art begrüßt: bei den deutschen Konservativen der 1980er Jahre, die die deutsche Vergangenheit „normalisieren“ wollten, und bei osteuropäischen Ultranationalisten von heute, die Nazi-Verbrechen herunterspielen und kommunistische Verbrechen hochspielen, um ein gemeinsames europäisches Gedächtnis zu fördern, das Nationalsozialismus und Stalinismus zu einer „doppelten Völkermord“-Theorie verschmilzt. So stellt er das Leid Osteuropas vor das Leid der Juden, verschleiert die Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern und entlastet das bittere Erbe der Kollaboration der Osteuropäer beim Nazi-Völkermord.“

In derselben Sonderausgabe lehnte Mazower indessen ab, Snyders Argumentation auf die von Nolte zu reduzieren:

„Nolte sorgte für Kontroversen, indem er behauptete (und es nicht beweisen konnte), dass die Verbrechen der Nazis als Echos der bolschewistischen Verbrechen entstanden seien, und diese Übung in historischer Apologetik verschaffte der miteinander verbundenen Geschichte von Nationalsozialismus und Stalinismus viele Jahre lang einen schlechten Ruf. (…) Aber unter den Historikern, zumindest den angloamerikanischen, haben sich die Zeiten geändert, und, wie Bloodlands zeigt, kann die Frage des Vergleichs nun auf professionellere und weniger tendenziöse Weise behandelt werden. (…) Snyders Ansatz ist daher frisch und notwendig und stützt sich auf die jüngste Hinwendung zur Geopolitik in beiden Bereichen.“

Baberowski, der sich im Zusammenhang mit dem „Historikerstreit“ nicht grundsätzlich ablehnend zu Noltes Ansichten zum Holocaust geäußert hatte, was ihm seinerseits erhebliche Kritik eingebracht hatte, kritisierte Snyder hingegen dafür, dass er nicht weit genug gegangen sei, um den Völkermord an den europäischen Juden mit „den Exzessen der Stalin-Diktatur“ in Verbindung zu bringen.

Auch in deutschen Medien sind die Reaktionen kontrovers. Beispielhaft sei auf die Rezensionen in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (FAZ) und der „Frankfurter Rundschau“ (FR) verwiesen.

So ist Sönke Neitzel in der FAZ vom 29.01.2012 positiv angetan:

„Unzählige Bücher sind über die nationalsozialistischen und sowjetischen Verbrechen geschrieben worden, und doch schafft es Timothy Snyder in seinem Werk, einen neuen Weg zu gehen: Er durchbricht die bisherigen Ansätze einer vielfach nationalen Darstellung und erzählt stattdessen die Geschichte eines Raumes: den „Bloodlands“ (…) In diesem Kerngebiet des Todes entwickelte sich eine Vernichtungsmaschinerie, die dem Zweiten Weltkrieg seine spezifische Signatur als dem opferreichsten Konflikt der Geschichte verlieh. (…) Es ist der große Vorzug dieses Buches, unter Einbeziehung der Perspektive der osteuropäischen Bevölkerung die deutschen und sowjetischen Untaten gemeinsam unter die Lupe zu nehmen. So werden die Ähnlichkeiten und vor allem die Unterschiede in Intention und Umsetzung erst richtig deutlich.“

Doch ist Neitzel bewusst, vor welchem Hintergrund Snyders Ansatz gesehen werden kann. Den „Historikerstreit“ nur andeutend stellt er fest:

„Noch vor zehn oder zwanzig Jahren wäre es dem akademischen Selbstmord gleichgekommen, einen solchen Ansatz zu wählen. Doch die Zeiten ändern sich. Mit der zunehmenden Historisierung wird auch die Geschichtsschreibung über die Massenverbrechen des Zweiten Weltkrieges weniger stark von Emotionen geprägt.“ 

Jörg Später dagegen schlägt, was diesen Punkt anbelangt, in seiner Besprechung in der FR vom 27.10.2011 andere und deutlichere Töne an:

„In welchem Verhältnis stehen nun die Massenmorde zueinander? Das wird nicht recht klar. Der Noltesche kausale Zusammenhang, nach dem der „Rassenmord“ der Nationalsozialisten nur aus Furcht vor dem älteren „Klassenmord“ der Bolschewiki entstanden sei, ist es wohl nicht, obwohl Snyder den Partisanenkrieg als Provokation für den NS-Terror bezeichnet und sich damit auf revisionistisches Terrain begibt.“

Später unterstreicht hingegen einen Aspekt von Snyders Werk, den andere Autoren wenig bis gar nicht berücksichtigen:

„Doch was erklärt ein solcher Gewaltraum mehr, als dass es eine Tragödie ist, wenn ein Mensch in seinem kurzen Leben gleich zwei oder gar mehrmals Opfer eines Vernichtungsversuches wird? Vermutlich ist es die Vorstellung, von Gewalt kontaminierte Räume seien Ermöglichungsräume für neuerliche Gewalt.

(…)

Wo alle Schranken niedergerissen sind, ergeben sich Situationen, um Macht und Vernichtungsfantasien freien Lauf zu lassen. Dies entspricht dem Trend in der neuesten historischen Gewaltforschung: Wo früher intentionalistische und funktionalistische Interpretationen federführend waren, sind es heute eher „situationistische“. Dieser auf lokale Zusammenhänge gerichtete Blick verspricht interessante Einsichten in komplexe Mordprozesse. Denn es ist ja in der Tat so, wie Jan-Philipp Reemtsma einmal die „Terrorratio“ beschrieb, dass viele mordeten, weil sie an den Antisemitismus glaubten, aber nicht weniger daran glaubten, weil sie gemordet hatten.“

Eine größere, wissenschaftlich akribische und summarisch gesehen sehr kritische Studie widmete der Münchner Historiker Jürgen Zarusky den „Bloodlands“ in der Zeitschrift „Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte“, Heft 1 von 2012. Dieser Beitrag ist es wert, näher betrachtet zu werden.

Den von Jörg Später angesprochenen und mit der Interaktion zwischen Nazi- und Sowjet-Regime in Zusammenhang stehenden „situationistischen“ Ansatz scheint Zarusky indessen nicht in Erwägung zu ziehen, wenn er eingangs seines Beitrags den Inhalt der „Bloodlands“ kritisch umreißt und festhält:

„Die „Bloodlands“ sind keine historische Landschaft, sondern ein synthetisches Konstrukt, mit dem der Autor selbst nicht immer konsistent operiert. Es geht nicht so sehr um die Untersuchung einer geschichtlichen Region als um die Etablierung eines nicht unproblematischen Narrativs. Charakteristisch für dieses sind

  • eine „Ethnisierung“ von Stalins Verbrechen, die ähnliche völkermörderische Intentionen unterstellt wie die des Nationalsozialismus, ferner
  • die Überspielung der Verschiedenartigkeit der Ideologien der beiden Regime und der daraus erwachsenden Feindbildkonstruktionen durch ein vages ökonomistisches Konzept und
  • eine in mehrfacher Hinsicht verzerrte Perspektive auf die Interaktion des nationalsozialistischen Deutschland und der stalinistischen Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg.“

Es ist in erster Linie der mit der „Interaktion“ intendierte kausale Zusammenhang der beiden Mord-Programme Stalins und Hitlers, schlussendlich auch die Gleichsetzung der beiden Regime, die bei Zarusky Anstoß erregen. Er stellt dabei klar:

„Nun bestreitet außer einigen Alt- und Neostalinisten niemand mehr ernsthaft, dass Stalins Politik die Hungerkatastrophe in der Sowjetunion 1932/33 herbeigeführt hat, die insgesamt, d.h. in der Ukraine, in Kasachstan – wo sie am tödlichsten ausfiel –, im Nordkaukasus, im Wolga- und Zentralen Schwarzerdegebiet, aber auch im Ural und Westsibirien etwa sechs Millionen Opfer forderte. Hoch umstritten ist aber die Frage, was zu diesem Massensterben geführt hat: das rücksichtslose Festhalten an abwegigen Klassenkampffantasien und einer untauglichen kommunistischen Agrarutopie oder eine insbesondere gegen die Ukrainer gerichtete Mordabsicht. Die wissenschaftliche Kontroverse hält seit über 25 Jahren an. Ausgelöst hatte sie 1986 Robert Conquest mit seinem Buch „Harvest of Sorrow“, in dem er die Genozid-These vertrat, welcher unter anderem der deutsche Osteuropa-Historiker Stephan Merl, ein Spezialist für sowjetische Agrargeschichte, entgegentrat.“

Zarusky lehnt diese ethnische, ursprünglich auch nicht von Snyder aufgebrachte Sichtweise auf das von Stalin verursachte Massensterben in der Ukraine, inzwischen auch unter dem Begriff „Holodomor“ bekannt, dezidiert ab. Mehr noch, auch die Verwendung des Begriffs „Holodomor“, wird Gegenstand der kritischen Betrachtung.

Zarusky führt aus:

„Nach dem Ende der Sowjetunion wurde das Hungersterben auch zu einem zentralen Sujet der ukrainischen Historiographie. Unter Präsident Juschtschenko wurde die These, der Holodomor sei ein gegen die ukrainische Nation gerichteter Genozid gewesen, gesetzlich sanktioniert und international propagiert. Stalin habe die Absicht verfolgt, die ukrainische Nation zu zerstören, lautete die staatsoffizielle Erklärung des Geschehens, die zeitweilig mit exorbitant überhöhten Opferzahlen von bis zu 10 Millionen operierte. Die seriöse ukrainisch Geschichtsforschung hat diese Übertreibungen inzwischen verworfen, behält aber die Genozidthese bei.

(…)

Die Einschätzung der Hungerproblematik hat weitreichende Folgen für die grundsätzliche Bewertung von Stalins Regime und für dessen Vergleich mit der Hitler-Diktatur. Die Kernfrage lautet, ob den Feindbildern des Stalinismus ethnisch-essentialistische oder gar biologistisch-rassistische Kategorien zugrunde lagen oder nicht, was wiederum für die ideologische Nähe bzw. Distanz zwischen dem Kommunismus Stalinscher Prägung und dem Nationalsozialismus von entscheidender Bedeutung ist.“

Den Großteil seiner Studie in den „Vierteljahresheften“ widmet Zarusky der Widerlegung eben dieser Vorstellung, die Ukrainer seien ausgehungert worden, weil sie Ukrainer gewesen seien. Entsprechend sollte auch nicht die Ukraine als Nation vernichtet werden. Die Motive Stalins seien vielmehr rein (agrar-)politischer Natur gewesen. Das soll insbesondere dadurch belegt werden soll, dass die mörderischen Aktivitäten nicht nur in der Ukraine, sondern auch in anderen, dazu nicht zu den „Bloodlands“ gezählten Regionen der Sowjetunion stattfanden, mancherorts sogar noch schlimmer als in der Ukraine. Snyder hingegen falle sozusagen auf den Mainstream der neueren und national bestimmten ukrainischen Historiographie herein.

Daher urteilt Zarusky sehr hart über Snyders Ansatz:

„Die „Ethnisierung“ von Stalins Verfolgungspolitik ist ein Hauptmerkmal von Snyders Buch. Auf diesen Nenner möchte er unter brachialer Verkürzung der komplexen Zusammenhänge unter anderem auch Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten ab 1945 bringen.

(..)

Festzuhalten ist aber, dass er seine Darstellung mit dem ahistorischen und kontrafaktischen Bild eines antisemitischen Massenmörders namens Stalin enden lässt.

(…)

Aufgrund des Bestrebens, parallele Entwicklungen bei der deutschen und der sowjetischen Besatzung herauszustreichen, die es zweifellos gegeben hat, werden wesentliche Unterschiede von Umfang und Zielrichtung der Verfolgungsmaßnahmen verkannt oder ignoriert.

(…)

Wenn aber nicht so sehr der (geographische; PC) Raum, als vielmehr ein durch diesen konstituiertes Narrativ im Zentrum der Darstellung steht, ist nach dessen Struktur zu fragen. Ein Grundzug besteht darin, dass die Regime und ihre Verfolgungspraktiken einander stark angenähert werden. Dabei werden insbesondere stalinistische Massenverbrechen als Formen ethnischer Verfolgung dargestellt und der zweifellos existierende Antisemitismus Stalins spekulativ über den Tod des Diktators hinaus in ein eliminatorisches Stadium fortgeschrieben. Auf diese Weise wird eine ideologische Verwandtschaft zwischen den Diktatoren insinuiert, wobei Snyder einer Analyse der konkreten Ideologien aus dem Weg geht.“

Zarusky stellt zum Schluss seines Beitrags recht pikiert Snyders Einseitigkeit bzw. Parteilichkeit fest:

„Dass er für Sowjetbürger generell nicht viel Sympathie aufbringt, ist nicht zu übersehen.“

Auch sehe Snyder die Rote Armee generell in einem schlechten Licht, daher müsse zu ihrer Ehrenrettung festgehalten werden:

„Tatsache ist und bleibt, dass die Sowjetunion und ihre Rote Armee dabei die Hauptlast (beim Kampf gegen Nazi-Deutschland; PC) trug.“

Nur am Rande sei bemerkt, dass es eine merkwürdige Parallele zwischen Hitler und Stalin immerhin doch gibt, wenn Zarusky zur Stützung seiner Argumentation festhält:

„Einen dokumentarischen Beleg für die Absicht Stalins, Millionen Bauern in der Ukraine verhungern zu lassen, gibt es aber nicht.“

Wenn man darunter einen klar geäußerten, schriftlich ausgefertigten Befehl oder ein entsprechendes Dokument verstehen will, so gibt es auch keinen „dokumentarischen Beleg“ für die Absicht Hitlers, Millionen Juden umzubringen. Aber das will natürlich in Bezug auf die Similaritäten der beiden Regime nichts heißen.

Abschließend bewertet Zarusky Snyders Werk durchaus gemischt:

„Timothy Snyder hat mit den „Bloodlands“ einen Nerv getroffen. Der Wegfall des Eisernen Vorhangs hat den Blick auf die gesamte europäische Geschichte frei gegeben, und nach zwei Jahrzehnten wächst das Bedürfnis, das maßgeblich (aber keineswegs „in gleichem Maße“) von zwei totalitären Diktatoren bestimmte Geschehen in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu begreifen.

Ein Vorzug von Snyders Buch besteht zweifellos darin, das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass dessen Epizentrum weiter im Osten lag, als gemeinhin angenommen. Bei der Suche nach historischer Orientierung in dieser widerspruchsvollen Epoche ist es aber nur bedingt hilfreich. Es ist ein kühner Versuch, gewissermaßen aus der Vogelperspektive die politischen Tragödien der 1930er und 1940er Jahre in einem davon im Höchstmaß betroffenen Gebiet zu erfassen. Das Ergebnis zeigt, dass die Zeit für diesen historischen Adlerflug wohl noch nicht reif und die von nationen- und gruppenbezogenen Narrativen ausgehende Gravitation noch zu stark ist.“

Auch hier also: Snyder sei in die Falle bestimmter, insbesondere von der Ukraine gesetzter Narrative geraten.

Timothy Snyder heute – Die aktuelle Debatte über den Krieg gegen die Ukraine

„Bloodlands“ ist auch heute das Werk, das Timothy Snyders Reputation beim deutschen Publikum ausmacht, mit dem er immer wieder in Verbindung gebracht wird.

Snyders aktuelle Einlassungen zum Krieg Russlands gegen die Ukraine werden jedoch ganz offensichtlich anders als vor gut zehn Jahren sein Buch „Bloodlands“ bewertet, auch wenn als Hintergrund immer noch die oben referierten kritischen und auf den „Historikerstreit“ bezogenen Auseinandersetzungen aufscheinen.

So verweist zum Beispiel Stefan Reinecke zu Beginn eines Beitrags für die „Tageszeitung“ (taz) vom 01.07.2022 auf Snyders Buch von 2010 und hebt hervor:

„Timothy Snyder ist ein US-amerikanischer Historiker und Professor an der Yale University. Bekannt wurde er 2010 mit der Studie „Bloodlands“, die eine neue Perspektive auf den NS-Vernichtungskrieg im Osten und die stalinistischen Morde warf.

(…)

Im Spiegel erschien Ende Mai ein Essay Snyders, in dem er Russland als „ein eindeutig faschistisches Regime“ bezeichnet, ‚das einen Vernichtungskrieg gegen einen Nachbarn führt‘.“

Reinecke zitiert im Weiteren auch andere Medien:

„In einem Interview der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Anfang Juni bezeichnete Snyder ‚den gesamten russischen Staat als faschistisch‘. Es gebe eine Einparteienherrschaft, einen Kult des Führers und des Imperiums und Verschwörungstheorien. In der Ukraine führe Putin einen Vernichtungskrieg, der zum Völkermord führe. ‚Ich spreche von Faschismus, weil Faschismus viele Gestalten hat. Es gibt britische, französische, italienische, deutsche oder amerikanische Faschisten, und alle sind ein wenig anders. Wenn ich jetzt sagen würde, Putin ist wie Hitler, dann wäre das zu eng gefasst.‘

Allerdings zieht Timothy Snyder wesentliche Parallelen zwischen Putin und dem NS-Regime: ‚Deportation war eine Methode Hitlers. Heute sind anderthalb Millionen Ukrainer deportiert worden. Das ist Völkermord. Ukrainische Kinder werden entführt, um zu Russen gemacht zu werden. Das ist Völkermord. Die Russen töten die Eliten der besetzten ukrainischen Gebiete, und auch das ist Völkermord‘.“

Interessanterweise stellt Reinecke die deutliche Klassifizierung Russland als „faschistisch“ lediglich fest, er enthält sich jedoch jeder Kritik, wie sie zehn Jahre zuvor noch die Diskussionen um Snyders Werk kennzeichnete.

Dies scheint bezeichnend für die aktuelle Debatte zu sein. Zu klar und eindeutig sind inzwischen die Äußerungen aus der Moskauer Zentrale, die im Zusammenhang mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine gemacht wurden.

Zu erinnern ist in erster Linie an Putins Essay vom Juli 2021 mit dem Titel „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“. Darin legte er seine Überzeugung dar, dass Russen und Ukrainer ein „einzelnes Volk“ und die Ukraine historisch gesehen ein Teil der russischen Welt (Russkiy Mir) seien. Die Idee einer eigenständigen ukrainischen Nation sei künstlich durch den Westen gefördert worden, um Russland zu schwächen.

In seiner Rede vom 21.02.2022, also wenige Tage bevor er die russischen Militärkolonnen gegen die Ukraine in Marsch setzte, stellte Putin die Eigenstaatlichkeit der Ukraine erneut infrage und behauptete, die Ukraine sei ein künstliches Konstrukt, das von Lenin und der Sowjetunion geschaffen wurde. Nach dem Zerfall der Sowjetunion habe die Ukraine „ungerechtfertigterweise“ große Territorien erhalten, die historisch zu Russland gehörten. Er sprach der ukrainischen Regierung die Souveränität ab und bezeichnete sie als korrupt und vom Westen gesteuert.

Diese Aussagen und der bisherige, überaus brutale Verlauf des Krieges, die bewusste und massive Zerstörung von ukrainischen Kulturgütern sowie die unverhohlene Sympathie, die Putin für Stalin empfindet, belegen eindeutig, dass es Russland unter seiner aktuellen Führung auf die Vernichtung der Ukraine nicht nur als Staat, sondern auch als eigenständige Nation mit eigenständiger Sprache und Kultur angelegt hat.

Einzuordnen ist diese Haltung und das gesamte Geschehen in der Ukraine in den jahrhundertelangen, mit Zar Iwan „dem Schrecklichen“ einsetzenden, Imperialismus, der insbesondere im Falle der Ukraine und seiner Bevölkerung seine eliminatorische Seite zeigte. Dies gilt für die Vergangenheit wie nun auch für die Gegenwart. Dass auch andere Völker dieses Schicksal erlitten, seien es die Esten, Letten, Litauer oder die Kasachen, spricht nicht gegen diese Erkenntnis, sondern unterstreicht, dass der „Westen“, also auch wir, jahrzehntelang die Augen vor dem russischen Imperialismus geschlossen hielten.

Die an Snyders Werk kritisierte „Ethnisierung“ dieses mit der Besetzung der Krim 2014 begonnenen und 2022 in seine heiße Phase eingetretenen Krieges der Russen gegen die Ukrainer – eines Krieges, der ohne die weit zurückreichende Vorgeschichte des Verhältnisses von Ukrainern und Russen nicht zu verstehen ist – steht inzwischen außer Zweifel. Ebenso außer Zweifel steht, wer in diesem Krieg mit seinen Narrativen die Realitäten bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.

Peter Conzelmann

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