Vom Pull-Faktor (in) der Migrationsdebatte
In der derzeit überhitzten Diskussion um irreguläre Zuwanderung ist häufig von sogenannten Pull-Faktoren die Rede. Damit gemeint sind unter anderem die hohen Sozialleistungen bei uns, sowie die Seenotrettung im Mittelmeer; angeblich sollen durch sie Flüchtlingsströme aus dem globalen Süden nach Europa gelockt werden.
Aber dient nicht eher dieses Argument selbst als Pull-Faktor, und zwar mit dem Ziel, möglichst viele Wählerstimmen anzulocken? Ein Klärungsversuch.
Kürzlich hieß es in den Nachrichten, die CDU wolle im Wahlkampf einen Focus auf das Thema Migration legen. Wenig überraschend, wie mir scheint. Vermutlich wollen die Christdemokraten mit diesem Programmpunkt im Gepäck verhindern, auf dem Weg zum Wahlsieg doch noch von der AfD überholt zu werden. Rechts überholt, versteht sich.
Bereits vorgespurt hat in dieser Frage die CDU-Fraktion im Konstanzer Kreistag. Im Dezember hat sie dort einen Antrag vorgelegt, in dem sie die weitere finanzielle Unterstützung der Seenotrettung durch die Kommune an eine Bedingung knüpft: die Geretteten sollen nicht in den nächsten sicheren Hafen gebracht werden, sondern zurück an ihren Abfahrtsort, i.e. an die afrikanische oder türkische Küste.
Aufgrund massiven Protests der übrigen Kreistagsfraktionen wurde der Antrag wieder zurückgezogen, soll aber auf einer der nächsten Sitzungen erneut vorgelegt werden. Der Konstanzer OB, der auch zu den Unterzeichnern gehört, hat in einem offenen Brief Stellung bezogen und darauf hingewiesen, dass es letztlich die Kommunen seien, die für Unterbringung, Bildung und Lebensunterhalt der Geflüchteten aufzukommen hätten, ohne dass der Staat ausreichend Mittel dafür zur Verfügung stelle. Vieles, was in diesem Brief steht, ist durchaus nachvollziehbar und bedenkenswert, vieles – nicht aber der Schluss, zu dem er kommt. Denn auch der bekräftigt, dass die Fortsetzung der finanziellen Unterstützung für die Seenotrettung daran geknüpft sein müsse, dass die Geretteten – und zwar ohne vorherige Prüfung ihres Anspruchs auf Asyl – in einen Mittelmeer-Anrainerstaat abgeschoben werden, in dem sie alles andere als sicher sind.
Als Rechtfertigung für diese Forderung dient dem OB das Argument, die private Seenotrettung, so wie bislang praktiziert, sei für die Entstehung krimineller Schlepperstrukturen verantwortlich und verfestige „die Anreize für irreguläre Migration und lebensbedrohliche Migrationsrouten“.
Von da bis zu einer Kriminalisierung der Seenotrettung auf dem Mittelmeer ist es, so scheint mir, nicht weit. Dabei hatte sich der Landkreis Konstanz 2019 genau dagegen öffentlich positioniert; damals hat er die Patenschaft für ein ziviles Rettungsschiff der Seenotrettungsorganisation Sea-Eye übernommen und sich für fünf Jahre zu einer finanziellen Unterstützung von jährlich 10.000 € verpflichtet. Das ist der Geldbetrag, der nun laut CDU-Antrag nur dann weiter bewilligt werden soll, wenn Sea-Eye auf die genannte Rückführungs- Forderung eingeht. Für den Fall, dass sie das tatsächlich tun sollte, stellt die CDU-Kreistagsfraktion – ungeachtet der leeren Kassen – sogar eine Erhöhung des Zuschusses in Aussicht.
Wohlgemerkt: in ihrem Antrag spricht sich die CDU-Fraktion nach wie vor klar für die Rettung von Schiffbrüchigen und in Seenot geratenen Geflüchteten aus. „Wir dürfen keine Menschen im Mittelmeer ertrinken lassen“, schreibt der Konstanzer OB in seinem offenen Brief. Aber dann – wohin mit ihnen? Das Völkerrecht verpflichtet nicht nur zu ihrer Rettung, nein, auch dazu, die Geretteten an einen sicheren Ort, in einen sicheren Hafen zu bringen. Aber können, wollen wir (uns) das heutzutage überhaupt noch leisten? Diese Frage stellt sich nicht nur den politisch Verantwortlichen, sie stellt sich uns allen.
Beim Nachdenken darüber ist mir eine Rede wieder eingefallen, die ich vor 10 Jahren für ein Straßentheaterprojekt geschrieben habe. Zwar handelt es sich dabei um einen satirischen Text, was ihn jedoch mit der oben erzählten „wahren Geschichte“ verbindet, ist der innere Zwiespalt, das hin- und her Lavieren zwischen Goodwill und Kosten-Nutzenlogik, zwischen halbherziger Mitmenschlichkeit und ängstlicher Besitzstandswahrung.
Aufgrund der genannten Parallelen möchte ich diese Rede hier anhängen. Wie gesagt, es handelt sich um einen 10 Jahre alter Theatertext und der bezieht sich auf die damalige, nicht die gegenwärtige „Flüchtlingskrise“. Aber abgesehen davon, dass heute ein paar Zahlen nach oben korrigiert werden müssen (2015 waren 60, 2024 bereits 118 Millionen Menschen auf der Flucht), hat sich an dem Dilemma, in dem wir uns alle befinden, nicht wirklich etwas geändert.
Sowohl der Redner als auch die Ausgangssituation der Rede sind rein fiktiv, die dargestellten Sachverhalte jedoch sind wahrheitsgetreu der Wirklichkeit entnommen.
Flüchtlingsempfang
Ein fiktiver Redner, Vertreter einer nicht näher bezeichneten politischen Gruppierung, soll neu angekommene Flüchtlinge im Konstanzer Hafen begrüßen. Flankiert wird er von zwei Männern afrikanischer Herkunft, die ein Transparent mit der Aufschrift „Herzlich willkommen“ halten. Die Rede beginnt mit einem Microtest.
Eins…zwei…eins…zwei…
Redner (räuspert sich und fängt dann an zu sprechen ):
Ja…. Wenn Sie sich jetzt fragen, was machen die hier, wer soll denn da begrüßt werden, dann lassen sie mich antworten: wir stehen hier, weil wir ein Zeichen setzen wollen. Weil wir unmissverständlich zum Ausdruck bringen wollen, dass wir – die Europäer, die Deutschen, die Konstanzer – dass wir unverbrüchlich zu unserem humanistischen Idealen stehen und zu den Menschenrechten. Auch wenn dies hier nur ein symbolischer Akt sein kann, ein Akt des Goodwill, angesichts des Flüchtlingselends, das da auf uns zugerollt kommt.
Die Menschen in unserem Land und auch hier im Ländle sind sich ihrer humanitären Verantwortung heute bewusster denn je, auch das wollen wir mit unserer Aktion zum Ausdruck bringen. Auch wenn dies selbstverständlich nicht heißen kann, dass hier bei uns in Europa Platz ist für alle, die sich auf den Weg zu uns gemacht haben. Insgesamt sind das zwar nur 1,5 % aller Flüchtlinge weltweit, aber wenn man bedenkt, dass derzeit fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind, mehr als je zuvor in der Menschheitsgeschichte, dann sind 1,5 % davon schon eine ganze Menge.
In Zahlen: es geht um rund neunhunderttausend Menschen, die Zuflucht in Europa suchen. Fast so viele Flüchtlinge also, wie der Libanon derzeit zu verkraften hat. Denn ja, Sie haben richtig gehört: der Libanon bringt schon jetzt mehr Flüchtlinge unter, als die EU aufnimmt oder besser: im Idealfall aufnehmen wird. Über eine Million Flüchtlinge befinden sich derzeit auf libanesischem Territorium, einem Territorium, das insgesamt nur ein Viertel so groß ist wie das der Schweiz.
So gesehen mögen neunhunderttausend Flüchtlinge, über ganz Europa verteilt, nicht besonders viel erscheinen. Allerdings: die Standards, die wir hier in Europa zu verteidigen haben, sind nicht zu vergleichen mit denen des Libanon, einem Land, das an unstabile Verhältnisse gewöhnt ist und ständig am Rande des Abgrunds laviert. Bei allem Respekt für die Leistung des Libanon und der Libanesen – was haben sie dort schon zu verlieren, verglichen mit uns? Nehmen wir an, die Bundesrepublik Deutschland müsste ein solches Flüchtlingsaufkommen bewältigen, wie derzeit der Libanon, das würde bedeuten… machen wir doch schnell mal die Rechnung auf…. das hieße… Moment – wir haben 80, der Libanon 4 Mio. Einwohner – das hieße also, dass wir 20 Millionen Flüchtlinge aufnehmen müssten und so etwas – da sind wir uns sicher einig – so etwas kann man vielleicht einer libanesischen Bevölkerung, nicht aber der Deutschen zumuten.
20 Millionen Flüchtlinge – das wäre fast doppelt so viel wie nach dem zweiten Weltkrieg, als 12 Millionen Vertriebene aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten nach Restdeutschland kamen. Gut, letztlich ging auch das irgendwie. Aber eben – nur irgendwie! Dass unsere Zurückhaltung in Flüchtlingsfragen ganz und gar nicht rassistischen Ursprungs ist, das beweist allein schon der Umstand, dass wir auch unsere eigenen Leute, damals Rucksackdeutsche genannt, nicht mit offenen Armen aufgenommen haben. Die erfolgreiche Eingliederung der Vertriebenen in Nachkriegsdeutschland – das war zwar ein Mythos der alten Bundesrepublik, entsprach aber nicht wirklich der Realität. „Badens schrecklichster Schreck – der neue Flüchtlingstreck“, so dichtete man damals. Und so dichtet man – sinngemäß- auch heute wieder: auf den Pegida Veranstaltungen in Karlsruhe, Villingen oder anderswo im Ländle. Allerdings: die Sorge dieser Menschen ernst zu nehmen, auch das ist die Aufgabe verantwortungsvoller Politik. Schließlich sollen und wollen wir zuallererst für die da sein, die uns gewählt haben: für unsere eigenen Bürgerinnen und Bürger. Denn bei allem Verständnis für das Flüchtlingselend: auch in der Bibel ist von Nächstenliebe, nicht von Fernstenliebe die Rede.
Wenn wir von Flüchtlingen sprechen, dann sprechen wir von Problemen, darüber müssen wir uns im Klaren sein. Die Worte „Flüchtling“ und „Problem“ sind sozusagen Synonyme. Deshalb wäre es 1945 auch sinnlos gewesen, den Menschen in Restdeutschland zu prophezeien, dass die Vertriebenen einen entscheidenden Anteil am deutschen Wirtschaftswunder haben werden. Genauso sinnlos wäre es heute, wenn wir die Wählerinnen und Wählern davon zu überzeugen suchten, dass Flüchtlinge mittelfristig ein Gewinn für unsere Wirtschaft sind. Wichtiger als solche Aussagen, denen sowieso keiner Glauben schenkt, ist es, den Menschen in unserem Land glaubhaft zu machen, dass wir sie weder umgehen noch überfordern wollen. Es muss deshalb Aufgabe der europäischen Politik sein – parallel zu den zahlreichen Plädoyers für eine Willkommenskultur – die Grenzen Europas abzuschotten. Denn die Sicherheit, um die es uns zuallererst gehen muss, ist die Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger und die Wahrung unseres Wohlstandes, den wir uns hart erarbeitet haben.
Warum denn dann dieser ganze Hype um die Flüchtlinge, werden Sie mich nun sicher fragen. Warum wird der innere Frieden unseres Landes riskiert, nur um einige wenige aufzunehmen, im Grunde ja sowieso nur die Reichen unter den Armen, nämlich die, die es sich leisten können, einen Schlepper zu bezahlen?
Lassen Sie mich wieder einen Rückgriff auf die europäische Geschichte machen, um diese Frage zu beantworten:
In der Vergangenheit waren auch wir Europäer immer wieder gezwungen, die Heimat zu verlassen, um unser Überleben zu sichern. 70 Millionen Menschen waren es insgesamt, die von Schlepperbanden wie Hapag Lloyd in die Neue Welt verschifft wurden. Ein kleiner Teil von ihnen floh vor politischer Verfolgung, die meisten aber waren auf der Flucht vor Armut und Hungersnöten. Dies hat uns gelehrt zu verstehen, dass Menschen den Wunsch haben, dorthin zu gehen, wo sich ihnen eine Lebensperspektive bietet. Und diesen Wunsch müssen wir – bei aller Kritik – auch den Menschen zugestehen, die sich heute aus den Krisenherden dieser Welt zu uns aufgemacht haben.
Natürlich – wir wären hoffnungslos überfordert, wollten wir alle diese Menschen bei uns aufnehmen. Denn letztendlich kann Europa nur eines sein: eine Insel der Seligen. Für mehr reicht auch unser wirtschaftliches und technisches Potential nicht aus. Deshalb sind wir ja auch bemüht, die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern der Flüchtlinge nachhaltig zu verbessern. Deshalb steht Deutschland ja auch zu seinem Ziel, die Entwicklungshilfe, wie international vereinbart, bis 2015 auf 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung zu steigern; immerhin lag sie im letzten Jahr schon bei
0,35 %, hat diese Zielsetzung also um nur noch 50% verfehlt.
Natürlich – es gibt auch noch die Stimmen derer, die behaupten, wir hätten durch unsere Wirtschaftsdominanz den Hunger in der dritten Welt mit zu verantworten. Diesen gutmeinenden Zeitgenossen kann ich nur eines zurufen: bitteschön, dann verzichtet eben auf Discounterketten und Billigklamotten, auf uneingeschränkten Fleischkonsum, digitale Vernetzung und Mobilität zum Schnäppchenpreis. Verzichtet darauf – nur einen Monat! – und ich garantiere euch: ihr werdet die Segnungen unseres globalen Wirtschaftssystem wieder zu schätzen wissen.
Letztendlich – was hat denn vor allem dazu beigetragen, dass die Flüchtlingsströme so ein Ausmaß angenommen haben? Das waren doch diese unseligen Revolutionen wie der sogenannte arabische Frühling zum Beispiel, angeführt von jungen, unüberlegten Menschen, die zudem ein idealisiertes Bild von Demokratie und Freiheit haben. Was wissen sie denn von den realen Alltagsmühen, die damit verbunden sind? Wir Europäer – wie gerne würden wir uns manchmal der Herausforderungen entledigen, die Demokratie und Freiheit mit sich bringen. Wie viele von uns haben die Nase gestrichen voll von eben diesen Idealen, für die die Menschen in Nordafrika, im Nahen Osten und, ja –auch auf dem Maidan! – gekämpft haben und gestorben sind. Aus Unwissenheit gekämpft haben und gestorben sind. Denn nun ist sie futsch, die Stabilität der betroffenen Staaten – zugegeben, eine Stabilität des Schreckens, aber immerhin! – und die Menschen müssen mit den traurigen Konsequenzen leben.
Auch uns wäre – mit Verlaub – einiges erspart geblieben, hätten diese Umstürze nicht stattgefunden. Auch eine Diktatur muss nicht immer nur schlecht sein; ein Mann wie Gadaffi zum Beispiel – mit harter Hand hat er lange Jahre das Leid von uns fern gehalten, mit dem wir heute konfrontiert sind. Nämlich mit ansehen zu müssen, welche Dramen sich an unseren Außengrenzen und auf dem Mittelmeer abspielen.
Natürlich, das ist unbestritten, auch die Flüchtlinge leiden. Da sind wir aufgefordert, Maßnahmen zu ergreifen, besser spät als nie. Und gleichzeitig Verständnis aufzubringen für diejenigen unter uns, die befürchten, von der Flüchtlingswelle überrollt, verschlungen, ausgelöscht zu werden. Denn auch diese Furcht existiert nicht ohne Grund: denken sie nur an die Ureinwohner Amerikas, Südamerikas und Australiens. Was ist übriggeblieben von ihnen? Wenn man sich vor Augen führt, was die weißen europäischen Auswanderer mit den Rothäuten und Indios gemacht haben, dann kann einem schon bange werden bei dem Gedanken, was da auf uns zukommen mag…
Aber Kopf hoch. Was bei alledem nicht vergessen werden darf, das ist die Dankbarkeit. Dankbarkeit dafür, dass wir nicht, wie der Libanon, mit einem Standortnachteil zu kämpfen haben, sondern im Gegenteil, mit einem Standortvorteil gesegnet sind. Ein sicherer Hafen, das ist Konstanz für seine Bürgerinnen und Bürger. Inmitten einer lieblichen Landschaft am Wasser gelegen – zwar ist es noch nicht das Mittelmeer, aber doch das schwäbische Meer, klein und bescheiden, aber mit dem unbestreitbaren Vorteil versehen, dass keiner seiner Anrainerstaaten zu den Krisenregionen dieser Welt gehört.
Seien wir also dankbar. Auch für den Wohlstand, der diese Region auszeichnet. Und für die, die ihn garantieren: MTU, Airbus Defence & Space, Diehl, ATM Computersysteme, Liebherr Aerospace, MOWAG, Swiss Arms und wie sie alle heißen mögen, die Hightechunternehmen, die sich rund um den Bodensee angesiedelt haben. Die unsere Existenz sichern und mit ihrer Waffenproduktion dafür sorgen, dass uns nie die Arbeit ausgeht.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.