Zeitenwende – Blickwende: Gedanken darüber, was wir im Westen für Menschen geworden sind

Ulrike Endres

Kein Wachstum, der Handel klagt über das schlechte Weihnachtsgeschäft, in den Nachrichten wird uns regelmäßig der Konsumklimaindex vor Augen geführt, und auch andere europäische Länder fangen an zu meckern, wenn in Deutschland nicht genug konsumiert wird. Zu allen anderen Abhängigkeiten wird nun auch klar, dass unser Wohlstandsmodell vom Konsum abhängt und dieser quasi eine Bürgerpflicht ist. Ist das eine Zukunftsperspektive?

1. Vor der Landtagswahl in Thüringen

habe ich im Augustinermuseum in Erfurt folgendes Gespräch zwischen einer Erfurterin und einem sehr gut Deutsch sprechenden Polen zufällig mitgehört:

Sie: „…wegen der AfD könnten DIE ja wenigstens mal mit uns reden, tun sie aber nicht.“

Er: „Ja. Wissen Sie, warum ich so gern hier bin, im Osten? Ich kann mit DENEN im Westen einfach nichts anfangen. Dieser ganze KONSUM immer …“

Ich könnte das abtun: diese beiden Leute fühlen sich nicht gehört und wehren sich mit Wir-gegen-die“, mit typischer antiwestlicher Propaganda. Aber mich hat das beschäftigt, so ausgeschlossen zu werden. Was macht Menschen wie mich, aus einer Konsumkultur, denn so fremd, dass man „mit DENEN nichts anfangen kann?

Vielleicht sollten wir uns auch mal fragen, was für Menschen wir im Westen geworden sind, wo unsere eigenen Deformationen liegen, anstatt die Befindlichkeiten und Deformationen der postsowjetischen Gesellschaften zu untersuchen. Es sind ja nicht nur unsere autoritären Galionsfiguren in Europa und Russland, die dem Westen Arroganz, Konsumismus bzw. Dekadenz, Materialismus, Individualismus etc. vorwerfen, sondern so schallt es aus einem großen Teil der Welt zu uns. (Während Konsumkritik, bzw. die Kritik an unserem Lifestyle bei uns nach wie vor ein Salonthema ist, Klima und Umwelt zum Trotz.)

2. „Der goldene Westen“

Durch meine Familienangehörigen in der früheren DDR und durch meine Arbeit im Russland der 90er Jahre weiß ich, wie schmerzhaft es sich von hinter dem eisernen Vorhang aus angefühlt hat, die ganze unerreichbare käufliche Pracht im Fernsehen zu sehen und die stolzen bis protzigen Auftritte westlicher Besucher mit ihren tollen Autos zu erleben. Wie erschüttert Besucher aus der DDR angesichts des Überflusses bei uns waren! Was bei uns allen ganz normal zugänglich war, überstieg die Privilegien ranghoher Kasten im sozialistischen Staat um Vieles. Was für eine Kränkung muss das gewesen sein!

Und wir hier: sind zwischen brechend vollen Supermarktregalen mit absurd vielen Sorten, Yoghurt, Shampoo etc. aufgewachsen und der täglichen Möglichkeit des „shop until you drop“. Werbung muss schon krasse Purzelbäume schlagen, damit uns das noch eine Emotion entlockt.

Eine saturierte Gesellschaft traf bei der Wiedervereinigung auf eine bedürftige, die im Westen ein Schlaraffenland sah, wo anscheinend alles vom Himmel fiel. Die Voraussetzungen dafür – Leistungsorientierung und kapitalistischer Konkurrenzkampf – blieben abstrakt. Dies traf im Osten auf eine Beziehungskultur in dem Sinne, dass menschliche Netzwerke die Voraussetzung für das funktionieren des Alltags und die Beschaffung von Dingen waren.

Ich glaube, es ist wichtig sich mal hineinzuversetzen, was für ein Enttäuschungs-potenzial darin lag, den real existierenden Westen zu entdecken:

Nach der Wende fiel zwar die D-Mark vom Himmel, zugleich aber für viele in Ostdeutschland eine Stunde Null, die „Sieger“ und Freiheitshelden waren zugleich die Verlierer: Verlust der Arbeit, Abwanderung, Abwertung des eigenen Lebenswerks. Natürlich ging es bei der „Wende“ nicht nur um Konsum. Aber sicher gab es die, denen vielleicht Freiheit und Demokratie gar nicht so am Herzen lagen, weil es ihnen in der DDR auch ganz gut ging, die vielleicht eher mal auf das Konsumparadies da drüben gespannt waren (Freiheit jaja, Demokratie jaja, aber die meisten alltäglichen Probleme könnten dadurch gelöst werden, dass man bekommen kann, was man braucht …). Denen wurde dann klar: das hat sich nicht gelohnt! Der menschliche Preis war zu hoch!

Das neue, in kurzer Zeit übernommene – in der Ostversion “übergestülpte“ – System, das nicht fragte, was am DDR-System erhaltenswert war, wurde so zum fremden, während rückblickend das früher als Unterdrückung erfahrene, alte System doch auch als menschlich und zum „Eigenen“ gehörig empfunden wurde. Das wirkt sich nun als antiwestliche Einstellung und Zuspruch für russlandfreundliche Parteien aus. Das Stichwort Konsumkultur spielt bei dieser Enttäuschung eine wichtige Rolle. Die Äußerung: „ich kann mit denen nichts anfangen … dieser ganze Konsum immer …“ verstehe ich auch als: das ist hohl und fremd.

(Dazu kommt die zweite Enttäuschung, dass der so ersehnte Konsum immer nur kurzfristig glücklich, auf die Dauer eher unzufrieden macht, wie wir eigentlich alle wissen).

Wären die Dinge anders gelaufen, wenn es rechtzeitig ein Bewusstsein dafür gegeben hätte, was diese persönlichen, menschlichen Verluste bedeuten? Hat das unser kapitalistischer Way of Life vielleicht nicht hergegeben, weil wir ja „sowieso die Guten“ sind und uns in der Siegerpose gefallen haben? Oder hat die Gier nach dem neuen Markt blind gemacht? Können wir sehen, wie stark das diesen Way of Life relativiert?

3. More is more!

Es gibt viele Gründe, die USA und die tollen Leute, die ich dort getroffen habe, zu lieben. Trotzdem hatte ich bei meiner letzten USA-Reise das schale Hintergrundgefühl, dass das Wesentliche unserer westlichen Kulturen die Autos, die Highways, die Vorstädte und die Supermärkte sind. Ohne die malerische, historische Substanz der europäischen Städte würde es bei uns genauso öde, bei allem Wohlstand so verarmt aussehen. Das ist es, was sich als Inbegriff von Demokratie und Freiheit dargestellt hat und für große Teile der Welt als erstrebenswertes Ziel galt… Dabei klang mir noch der Ausruf einer in einer Arte-Doku über Jack Bezos interviewten Amerikanerin im Ohr: „Oh, Amazon is so great! Whatever you want, you can have it right the next day!“ Die Frau war erwachsen! Und ich dachte mir: ist es das, was aus uns im Westen wird? Infantile Wunschmaschinen? Kauf 2 und bekomme 3, Genuss ohne Reue, selbstverständlich, Lieferung sofort… dafür geben wir unsere Daten und unser Privatleben preis. Regredieren unsere Gesellschaften in den Zustand von Kindern, die sich, wie im Finale des Filmklassikers „Kevin allein in New York“ mit Gebrüll auf einen riesigen Haufen Geschenkartikel stürzen? Oder sind diese Massenwaren, die uns die großen Konzerne als „tailormade“ und „individuell“ aufschwätzen, vielleicht ein Trost, solange nicht auch wir zum Tech-Milliardär aufgestiegen sind und dann auch radikal machen können, was wir wollen? Ausbeutung und Umweltzerstörung nehmen wir in Kauf und bewundern Politstars, die die Allmachtsphantasien von Dreijährigen haben oder coole, böse Machtmenschen sind.

Wie Menschen diesen Westen wahrnehmen und erleben, die aus weniger materialistischen Kulturen kommen, erzählt Ayad Akhtar in seinem Roman „Homeland Elegies“. Es geht um Vater und Sohn, der Vater ist aus Pakistan eingewandert und ein namhafter Herzspezialist geworden, der auch Trump behandelt hat. Er hat den amerikanischen Traum für sich realisiert und identifiziert sich leidenschaftlich mit den USA. Der in den USA geborene Sohn ist ebenfalls sehr erfolgreicher Theaterautor.

Wie unter dem Mikroskop beobachtet er jedoch in Alltagsepisoden an sich selbst und bei anderen die fragile Position der Migranten in der amerikanischen Gesellschaft, wie sich aus einem Blick, einem Tonfall, einer falschen Bewegung Misstrauen, Verdächtigung und rassistischer Konflikt entwickeln. Obwohl Vater und Sohn das Spiel von Karriere, Reichtum und Statussymbolen mitspielen, trotz ihrer Leistung für die amerikanische Gesellschaft, fühlt er, dass ihm Zugehörigkeit und Anerkennung verweigert werden und er nicht „reingelassen“ wird in die amerikanische Elite. Entsprechend ist er im Unterschied zu seinem Vater zunehmend desillusioniert. Besonders nach 9/11 stehen beide permanent wegen ihres „muslimischen“ Aussehens unter Verdacht und erleben die Gewaltbereitschaft des weißen Amerika. Der Vater, zuerst überidentifiziert, dann gebrochen, kehrt nach Pakistan zurück, der Sohn wendet sich in einem erschütternden Beswusstwerdungsprozess von seinem „Homeland“ ab. Neben der Diskriminierungs–erfahrung ist dabei der exzessive Konsum, die Rolle von Geld und Status und die durchgängige „Kundenorientierung“ also Kommerzialisierung, auch der Hochschulen und der Kultur, entscheidend für seine Entfremdung. Dadurch schärft sich ihm auch der Blick für den Zerfall der Gesellschaft und die Entwicklung zum Trump-Amerika. Seine pakistanische Community bezeichnet die Amerikaner wegen der dominanten Fokusierung aufs Geld und die empfundene Abwesenheit jeglicher Spiritualität als Geister, „Spiritual ghosts“: „…They`d turned their back on god for money … They were a category of human with no mesure beyond themselves. It was no surprise the very planet was dying under the watch of their shortsighted empire.“ (Ayad Akhtar, Homeland Elegies, 2020, S. 197)

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