Durchwursteln durch Ausprobieren
Armin Nassehis „Kritik der großen Geste“
Der am 18. Januar erschienene SPIEGEL, Nr. 4/2025, ist in großer Aufmachung Donald Trump gewidmet. Unter dem Front-Titel „Der Imperator“ samt trutzigem Portrait geht das Magazin der Frage nach, wie der neue US-Präsident „der Welt seinen Willen aufzwingen will“. Politik also im allergrößten Maßstab, kein Thema hält die Medien mit ihren Nachrichten und Kommentaren derzeit so in Atem.
Fast versteckt in dieser SPIEGEL-Ausgabe findet sich unter der Rubrik „Debatte“ ein zweiseitiger Essay von Armin Nassehi. Unter dem Titel „Sachkenntnis zählt nicht, nur die richtige Haltung“ beschäftigt sich der Münchner Soziologe mit dem Thema Streitkultur, insbesondere mit dem, was uns das traditionelle Fernsehen wöchentlich in den diversen Talkshows bietet. Exemplarisch nimmt er in erster Linie die deutsche Szene in den Blick.
Ausführlicher legte Armin Nassehi seine Überlegungen in dem 2024 bei C.H.Beck erschienenen Buch „Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken“ dar.
Man kann den Essay, aber auch das vor der der US-Wahl erschienene Buch, als Kommentar zum Oberthema Trump lesen, der wie kaum ein anderer einen politischen Stil prägte, in welcher Sachkenntnis und Sachlichkeit hinter der großen Geste zu verschwinden drohen.
Im Rahmen unseres Blogs „Zeitenwende“ schienen uns Nassehis Überlegungen betrachtenswert.
Im Sommer 2024 starteten wir unseren Blog. Vorausgegangen waren einige Diskussionsrunden, mit welchen Themen wir uns vordringlich befassen und welchen Namen wir dem Projekt geben wollen, siehe unser Editoral. Wir einigten uns nach einigem Für und Wider auf den Namen „Zeitenwende“, wobei die Mitglieder unserer Gruppe unterschiedliche Intentionen und auch Verständnisweisen dieses Begriffs hatten. Wir wollten es bewusst offenlassen.
Bei unserem ersten Treffen wies ich auf das Buch „Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne“ (Berlin, 2024) des in Wien lehrenden Soziologen Ingolfur Blühdorn hin. Der Autor mit dem Spezialgebiet Nachhaltigkeit war mir bis dato unbekannt gewesen. Kennengelernt hatte ich ihn im Juni 2024 auf einem kulturpolitischen Kongress in Berlin, wo er seine Thesen, per Video-Stream zugeschaltet, im Rahmen einer Panel-Diskussion präsentierte.
Im Anschluss an diesen Kongress besorgte ich mir das Buch und war beeindruckt von Blühdorns gründlicher Analyse der aktuellen politischen Diskurse zur sozial-ökologischen Transformation, insbesondere im Zusammenhang mit dem Thema Klimawandel. Mir schien, dass Blühdorns Ansatz weit darüber hinausging, und er schien mir geeignet zu sein, das zu umreißen, was wir als gemeinsamen Rahmen die „Zeitenwende“ genannt hatten. In meinen Augen beschrieb Blühdorn einen tiefergreifenden gesellschaftlichen Wandel, der das Sprechen über eine „Zeitenwende“ – wenn es über eine rein rhetorische Formel hinausgehen sollte – erst berechtigte.
Meine Buchempfehlung fand wenig Widerhall in unserer Gruppe. Das lag zum einen daran, dass Blühdorns streng soziologische Herangehens- und Sichtweise unserer Gruppe nicht eingängig erschien; auch mir fehlte zugegebenermaßen einiges an fachspezifischem Wissen auf soziologischem Gebiet, was die Lektüre erschwerte. Es lag zum anderen auch an den als provokant empfundenen Thesen über das zwangsläufige, da aus inneren Widersprüchen resultierende Scheitern der so genannten „Zweiten Moderne“.
Diese „Zweite Moderne“ war in Ulrich Becks soziologischem Klassiker „Risikogesellschaft“ (1986) beschrieben und breit rezipiert worden. Ihr Erfolg erwies sich vor allem daran, dass sich eine seit den 1970er Jahren neu formierende, kritische Zivilgesellschaft auf sie als Grundlage für das Gestalten einer besseren Zukunft berufen konnte: Die Risiken der „Ersten Moderne“ werden nicht ausgeblendet, sondern erkannt und im Rahmen einer Ausweitung der Demokratie durch verstärkten Einbezug der Basis angegangen (Stichwort: Bürgerinitiativen).
Für das Folgende sei festgehalten: Blühdorn setzt sich in seiner Studie sehr ausführlich mit Becks Modell der „Zweiten Moderne“ auseinander (sowohl Becks als auch Blühdorns Buch haben nicht zufällig den gleichen Untertitel: „Auf dem Weg in eine andere Moderne“), er betrachtet seinen Ansatz in gewisser Weise als deren Fortschreibung, sieht sie jedoch durch eine heraufziehende „Dritte Moderne“ überwunden. Verabschieden müsse man sich vor allem von den allzu optimistisch eingeschätzten basisdemokratischen Elementen, die, so Blühdorn, im Grunde ursächlich für das Scheitern der Zweiten Moderne seien. Von einigen Rezensenten wurde Blühdorns Ansatz deswegen als rückschrittlich, er selbst in verschiedenen linken Foren als reaktionär geschmäht.
Auf dem erwähnten Berliner kulturpolitischen Kongress hielt mit Armin Nassehi ein anderer renommierter Soziologe die Keynote. Anders als Blühdorn ist Nassehi auch einem breiteren Publikum bekannt, da immer wieder als Gast in TV- und Rundfunksendungen sowie als Buchautor und als Essayist in überregionalen Zeitungen und Magazinen ein kompetenter Kommentator aktueller gesellschaftlicher Phänomene – wie soeben in seinem Beitrag für den SPIEGEL.
Leider führten die Veranstalter des Berliner Kongresses Blühdorn und Nassehi nicht auf einem gemeinsamen Podium zusammen. Es hätte ein spannender Austausch sein können, denn der Blick der beiden auf den Gang gesellschaftlicher Debatten schien einige Parallelen, aber auch Differenzen aufzuzeigen.
Beiden gemeinsam ist der Befund einer multiplen Krisenerfahrung einerseits (Klima, Corona-Pandemie, Migration, Staatsfinanzen, Populismus, Kriege in Osteuropa und im Nahen Osten) und eines Gefühls der Ohnmacht bzw. Nicht-Bewältigbarkeit dieser Krisen (Blühdorn veranlasste dies zum Titel „Unhaltbarkeit“) in den liberalen Gesellschaften des Westens andererseits. Wo der besorgte Blühdorn quasi ein neues Zeitalter – die erwähnte „Dritte Moderne“ – heraufziehen sieht, plädiert der abgeklärte Nassehi hingegen für mehr Gelassenheit im Hier und Jetzt. Beiden gemeinsam wiederum ist das Bekenntnis, dass sie den von ihnen beschriebenen gesellschaftlichen Zustand weder herbeisehnen noch herbeireden, sondern diesen – als gewissenhafte Vertreter ihrer soziologischen Zunft – nur möglichst genau beschreiben wollten.
Nassehis aktuelles Buch „Kritik der großen Geste“, das mir Ernst Köhler, unabhängig von der Berliner Begegnung, zur Lektüre empfahl und das auch den inhaltlichen Hintergrund seiner Keynote bildete, ist – anders als Blühdorns „Unhaltbarkeit“ – nicht an ein Fachpublikum gerichtet. Es verzichtet weitgehend auf soziologischen Fachjargon und auf den üblichen wissenschaftlichen Apparat an Fußnoten und Bibliographie. Einige wenige Verweise auf andere Autoren und Werke werden direkt im Text benannt und kurz erläutert. Dennoch ist das Buch nicht im Ton leichtgewichtiger Ratgeber geschrieben. Es hat essayistischen Schwung, verlangt jedoch konzentrierte Lektüre. Auch einiges an Basiswissen im Hinblick auf Klassiker der Soziologie, insbesondere zur Systemtheorie nach Niklas Luhmann, sollte vorhanden sein.
Schon in seinem Buch „Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft“ (München, 2021), veröffentlicht zu Zeiten, als die Corona-Krise ihrem Höhepunkt zustrebte, ging Nassehi der Frage nach, an welchen sozialen Strukturen die Lösung gesamtgesellschaftlicher Krisen scheitert. Er nahm Bezug auf die Luhmannsche Systemtheorie, wonach moderne Gesellschaften in verschiedene, strikt voneinander abgegrenzte und sich selbst steuernde Funktionssysteme (Rechtspflege, Gesundheitswesen, Bildungswesen, Wissenschaft, Politik, Kunst, Religion usw.) aufgegliedert seien. Nassehi hielt fest, dass solche Gesellschaften nicht homogen sind und daher nicht zentral bzw. aus einem Guss gesteuert werden können. Nur in Ausnahmefällen, zum Beispiel im Krieg, lasse sich diese Ausdifferenzierung der Gesellschaft aufheben – meist zum Preis demokratischer Mitsprache und in jedem Fall unter Verlust der jeweiligen Potentiale der Funktionssysteme.
Die Probleme, mit denen moderne Gesellschaften sich konfrontiert sehen, sind so gesehen in besonderer Weise komplex, weil sich die jeweils wissenschaftlichen, politischen, ökonomischen, erzieherischen, rechtlichen usw. Logiken einander widersprechen können. Was wissenschaftlich richtig ist, kann politisch falsch sein, was ökonomisch opportun erscheint, kann vor rechtlichen Hürden stehen und jeweils umgekehrt.
Wie Blühdorn, so erntete auch Nassehi teils heftige Kritik. Dient der Verweis auf Komplexität nicht als probate Ausrede für das Nicht-Bewältigen von Krisen, als Legitimation von Passivität, gar als Schutzbehauptung für Bewahrer des Status quo?
Nein, so Nassehi. Wichtig sei vielmehr eine Strategie, die Nassehi im Gefolge der US-amerikanischen Ökonomin Deirdre McCloskey als „Trade-Tested Betterment“ bezeichnet, vergleichbar einem Politikstil des zurückhaltenden Reformierens, der unter dem Begriff „Inkrementalismus“ bekannt ist.
Gemeint ist mit „Trade-Tested Betterment“ ein ergebnisoffenes Austesten von kleinteiligen Lösungen, die bei Misserfolg rückgängig gemacht und im Bewährungsfall beibehalten werden. Wenn man so will: Trial and Error. Oder flappsiger gesagt: Muddling through, also Durchwursteln durch Ausprobieren.
Nassehi plädierte somit schon 2021 gegen den radikalen Umbau, gegen die Revolution, vor allem gegen plakative Gesten wie „Wir müssen sofort und entschlossen umkehren!“. Forderungen dieser Art seien der Komplexität der Gesellschaft nicht angemessen.
Im Vergleich zum Jahr 2021 kamen nun, wie beschrieben, noch einige Krisen hinzu oder haben sich deutlich verschärft. Auch die gefühlte gesellschaftliche Temperatur hat zugenommen, das allgemeine Reizklima und die Tonlagen in den öffentlichen Foren haben sich verschärft. Gruppen wie „Letzte Generation“ und „Extinction Rebellion“ adressieren schon mit ihrem Namen, dass nur die sofortige und radikale Abkehr vom bisherigen Lebensstil die Welt noch retten könne. Den Aktionen solcher Gruppen schlägt blankes Unverständnis und oft Hass entgegen. Das Pro und Contra von Waffenlieferungen an die Ukraine wiederum wird von Gegnern wie Befürwortern als Gang in die Hölle diskutiert, entweder im Falle der Lieferung als Auftakt eines nuklearen Krieges oder im Falle der Nichtlieferung als Ursache für eine Niederlage freiheitlicher Gesellschaften gegenüber einem totalitären Imperium.
Dies alles mag der Grund gewesen sein, warum Nassehi mit seinem Buch „Kritik der großen Geste“ seine Thesen von 2021 nochmals zuspitzte.
Nassehi beschreibt darin anschaulich einen gängigen politischen Kurzschluss: Von der Dringlichkeit einer Krise wird auf die Zustimmungsfähigkeit zu Veränderungen geschlossen: Da doch jede und jeder glasklar erkennen müsse, wohin die Welt treibe (aktuell könnte man die verheerenden Brände im Raum Los Angeles als Beleg nehmen), müsse doch auch ein sofortiges Umschwenken allen plausibel und damit grundsätzlich machbar sein. Eine andere Welt sei möglich, rufen unisono die Aktivisten, wir müssen sie nur wollen! Vor allem, so wird gemutmaßt, je lauter man wehklage, desto eher seien die Gesellschaften bereit umzulenken.
Damit aber, so Nassehi, gerate aus dem Blick, dass alle Transformation in einer Welt stattfinden müsse, die bereits da sei und mit ihren eigenen Mitteln darauf reagiere. Dazu zählen auch die populistischen Gefährdungen der Demokratie. Nassehi plädiert hingegen, wie schon 2021, für eine Logik der kleinen Schritte. Denn der pure und lautstark verkündete Wille zur Veränderung allein reiche nicht. Vor allem deswegen, weil eine Gesellschaft kein eindimensional ansprechbares, homogenes Kollektiv sei, kein „Wir“, das sich mit der „großen Geste“ unmittelbar adressieren lasse. Nassehis Schlussfolgerung: Man kann nicht gegen die Gesellschaft transformieren, sondern nur in ihr und mit ihr – und nur mit ihren eigenen Mitteln.
Aus dieser Sicht ist es also die Komplexität der Gesellschaft, die sich einer Steuerbarkeit durch rasche Änderung widersetzt, eine Gesellschaft, die sich im evolutionär erreichten Niveau des Bewährten und Gewöhnten als sehr stabil, man könnte auch sagen: zählebig erweist. Andererseits bedeute, so Nassehi, diese Stabilität keine grundsätzliche Unveränderlichkeit, auch wenn es vielen Aktivisten so erscheinen mag. Zumindest ermöglicht es eine so verfasste Gesellschaft, dass sich die Mahner und Warner mit ihren dringlichen Botschaften an diese wenden können.
Mit diesem Befund eckt Nassehi freilich an, denn – wie bei Blühdorn – scheinen seine Argumente denen recht zu geben, die am Status quo nur allzu gerne festhalten wollen. Somit auch die Bedenkenträger aller Couleur, die an der Thematisierung der vielfältigen Krisen durchaus Interesse haben, den Aktivisten aber laufend mit ihren Wenns und Abers kommen. Jene misstrauen vor allem den Vorstellungen von einem omnipotenten Staat, der es richten soll, plädieren vielmehr für ein Vertrauen in die Innovationskräfte der Wirtschaft und der Wissenschaft.
Kurz: Nassehi referiert einen sehr nüchtern-sachlichen und im Sinne einer Lösungsoffenheit liberalen Ansatz, der – zumindest hierzulande – in weiten Kreisen nicht gerade beliebt ist.
Zur besseren Verständlichkeit seiner Sichtweise trägt Nassehis eingangs angeführter SPIEGEL-Essay bei. Dort konstatiert er die Neigung, dass medial geführte Diskurse sich von der sachlichen Ebene entfernen und sich vorwiegend mit der Qualität der Diskurse selbst befassen. Man redet nicht über ein Problem bzw. über dessen Ursachen und Möglichkeiten der Beseitigung, sondern darüber, WIE man über ein Problem redet bzw. zu reden oder nicht zu reden hat.
Sachfragen, so Nassehi, seien nun mal in der Regel komplex. Diese Komplexität aber werde in den öffentlichen Debatten geradezu vermieden. Wichtiger sei, wer sich wie als Sprecherin oder Sprecher öffentlich in Stellung bringe. Im Vordergrund stehen daher nicht Sach-, sondern „hauptsächlich Identitätsfragen“.
Hier nun auch der argumentative Anschluss an das Buch von 2024: „Mit sehr großer Geste werden Disruptionen gefordert – oder abgelehnt. Schaut man aber auf die Details, hilft das wenig (…). Ein engagierter Diskurs wird vor allem darüber geführt, dass Sätze von großer Dringlichkeit gesagt werden.“
Folglich gehe es in den öffentlichen Diskursen „darum, komplexe Sachprobleme in einfache Darstellungsprobleme zu verwandeln, um sie öffentlichkeitsfähig zu machen.“ Mehr noch: „Der öffentliche Diskurs löst die Probleme, die er selbst konstruiert: Er erzeugt übersichtliche Konfliktlinien, statt zu fragen, wie wir etwa (im Zusammenhang mit dem Thema Klimakrise; P.C.) die energetische Grundlage ändern können. Erkenntnisfragen werden durch Bekenntnisfragen ersetzt.“
Diese Bekenntnisfragen stoßen sich jedoch schon daran, dass das Lösen sachlicher Probleme mit „Wechselwirkungen zwischen politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen, ästhetischen und zeitlichen Zwängen“ einhergeht. Am Ende bleiben daher nur Meinungen und Haltungen, aber keine realistischen Lösungsansätze – auch wenn die, in den Augen der Dringlichkeits-Apostel, wie pures Durchwursteln aussehen.
Die bisher vorgestellten Beiträge Nassehis – die Bücher von 2021 und 2024 sowie der aktuelle SPIEGEL-Essay – zielten nicht auf die spezifischen politischen Entwicklungen der letzten Jahre in den USA. In einem zusammen mit seinem Münchner Kollegen, dem Politologen Karsten Fischer, verfassten und in der FAZ vom 9. Januar 2025 veröffentlichten Essay wird hingegen der Rahmen im Hinblick auf das globale Krisenbewusstsein bzw. den Umgang mit multiplen Krisen geweitet. Dabei kommt die Sprache auch auf den neuen US-Präsidenten.
Die beiden Autoren halten fest, „dass die heute lebenden Generationen im Verlauf ihres Lebens mehr Wandel und Umbrüche erfahren haben als jede bisherige Generation“. Das Krisenbewusstsein habe sich daher deutlich ausgeweitet. Der auf wissenschaftlich-technischen Fortschritt basierende Wandel und die daraus folgenden Umbrüche können zwar einerseits als Erfolgsgeschichten einer steigenden Lebensqualität verstanden werden. Dass diese Umbrüche andererseits vielfach als Krisen wahrgenommen werden (im Sinne Ulrich Becks könnte man das als Übergang von der Ersten in die Zweite Moderne darstellen), habe mit „mangelnder Sagbarkeit“ zu tun. Denn Krisen könne man „am besten dadurch aushalten, dass man Beschreibungsformen etabliert, an die sich die Menschen gewöhnen können – in Form von Ideologien, Moralen, Nationalbewusstsein, Fortschrittserzählungen, Normalitätsunterstellungen, Sagbarkeiten.“
Allerdings haben nun die Sozial-, Geistes- und Kulturwissenschaften der letzten Dekaden die traditionellen Formen der Sagbarkeit weitgehend seziert und durchschaut, es fallen die Namen Freud, de Saussure, Foucault, Adorno und Heidegger. Auch dies ein – positiv gesehen – wissenschaftlicher Fortschritt, der zudem auf breiter Front „in den Alltag eingedrungen“ sei. Allerdings habe darunter letztlich die Sagbarkeit, jedenfalls in ihrer hergebrachten Form, massiv gelitten.
Vor diesem Hintergrund sowie im Zusammenhang mit den aktuell drängenden politischen Aufgaben seien „zwei radikale und entsprechend destruktive Alternativen“ und ihre disruptiven Lösungsansätze zu beobachten, die Nasshi/Fischer als Irrwege bezeichnen und die sich den reformerisch ansetzenden Modellen des Trade-Tested Betterment oder Inkrementalismus entgegenstellen.
Der eine Irrweg bestehe „in der normativen Übersteuerung mittels Gerechtigkeitsdebatten“; hier finden sich die mit „großer Geste“ vorgebrachten Forderungen vom sofortigen und radikalen Turn-around. Der andere Irrweg bestehe „in der ignoranten oder gar vorsätzlich intriganten Leugnung des Problems in Form von Verschwörungstheorien“.
Deutlich verweisen die Autoren an dieser Stelle auf Donald Trump und die in seinem Kometenschweif sich tummelnden Populisten. Auch sie stützen sich, neben der Diffamierung der gesellschaftlichen Eliten und auf ihre ganz eigene Art, auf Gesten größter Dringlichkeit, meist verbreitet durch die stark angewachsenen Netzwerke so genannter „sozialer Medien“.
Für Donald Trump war es eine Erfolgsformel und brachte ihn ein zweites Mal ins Weiße Haus, zuvor schon den libertären und Kettensägen schwingenden argentinischen Präsidenten Javier Milei oder die Post-Faschistin Giorgia Meloni. Denn wenn jemand bei der Bewerbung um höchste Staatsämter Disruption zum Allheilmittel ernannt, ja, damit gedroht hat, dann Politikerinnen und Politiker dieses Formats. Ihre größeren und kleineren Nachfolger finden sich heute überall auf der Welt.
Armin Nassehis eloquent vorgetragenen Beiträge erscheinen in einer Zeit, die immer weniger von dem geprägt zu sein scheint, was der Kern seiner Aussagen ist: Sachlichkeit, Augenmaß und Ergebnisoffenheit, auch Gelassenheit im Falle des Scheiterns. Stattdessen nimmt die Polarisierung jenseits und diesseits des Atlantiks zu. Die politischen und medialen Bühnen sind mehr und mehr besetzt mit Menschen, die sich gegenseitig mit den „großen Gesten“ übertreffen wollen (darunter auch, mehr als eine Peinlichkeit, Elon Musks emporgereckter rechter Arm). Diskurshoheit im öffentlichen Raum wird erstritten durch deren Bemächtigung.
Ingolfur Blühdorn sieht die Zweite Moderne zwangsläufig schwinden. Armin Nassehi hingegen scheint sich, trotz des anschwellenden Lärms, weiterhin in ihr verständlich machen zu können. Fragt sich, wie lange noch.
- Armin Nassehi, Sachkenntnis zählt nicht, nur die richtige Haltung, SPIEGEL Nr. 4/2025, 18.01.2025, Seiten 46 und 47.
- Ders. und Karsten Fischer, Krise? Welche Krise?, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 09.01.2025, Seite 6.
- Ders., Kritik der großen Geste. Anders über gesellschaftliche Transformation nachdenken. C. H. Beck, München 2024.
- Ders., Unbehagen. Theorie der überforderten Gesellschaft. C. H. Beck, München 2021.
- Ingolfur Blühdorn, Unhaltbarkeit. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Berlin 2024.
- Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986