Hier kommt einmal eine Pazifistin zu Wort

Ernst Köhler

Ich bin eine Pazifistin. Pazifisten hat es immer gegeben. Das ist eine besondere Sorte von Menschen, die das Leben als höchsten Wert von allen betrachten. Wir denken, dass jeder Konflikt friedlich gelöst werden kann. Ich kann nicht einmal eine Spinne töten; es ist für mich eine schreckliche Vorstellung, jemandem das Leben zu nehmen. Der Krieg geschieht auf Initiative des Militärs, doch der Frieden entsteht durch die Pazifisten. Und wenn Sie Pazifisten einsperren, dann zögern Sie den langersehnten Tag des Friedens hinaus. Ich glaube, dass das Leben heilig ist. Oh ja, das Leben! Wenn man allen Flitterkram dieser Welt wie Geld, Macht, Ruhm, Stellung in der Gesellschaft abwirft – bleibt im trockenen Rest nur das Leben übrig. Ja, das Leben! Es ist stur, aufdringlich, unglaublich, berührend, erstaunlich, stark. Es ist auf der Erde entstanden, und bisher haben wir im weiten Kosmos nichts Analoges gefunden. Es kann sich seinen Weg durch den Asphalt bahnen, Steine zertrümmern, ein kleiner Keim kann sich in einen riesenhaften Baobab-Baum verwandeln, eine mikroskopisch kleine Zelle in einen gigantischen Wal. Es besiedelt Gipfel, versteckt sich im Marianengraben, existiert im arktischen Eis und in der heißen Wüste. Seine vollkommene Form stellt der Mensch dar. Der Mensch ist eine sehr vernünftige Form des Lebens. Es ist Leben, das sich selbst erkennen kann, seine eigene Sterblichkeit erkennen kann. Allerdings denken wir nicht oft daran und leben so, als würden wir ewig leben. Doch in Wirklichkeit ist das Leben des Menschen begrenzt. Es ist armselig kurz. Alles, was wir können, ist, den kurzen Moment der Seligkeit verlängern. Alle Lebenden wollen leben. Selbst auf dem Hals Gehenkter findet man die Spuren von Fingernagelkratzern. Das bedeutet, dass sie im letzten Moment überleben wollten. Fragen Sie Menschen, denen man gerade ein Krebsgeschwür entfernt hat, was das Leben ist und wie wertvoll es ist. Heute kämpfen Wissenschaftler und Ärzte der ganzen Welt darum, die Dauer des menschlichen Lebens zu verlängern und Medikamente gegen tödliche Krankheiten zu finden. Deshalb verstehe ich nicht:

Wozu der Krieg? Denn Krieg verkürzt das Leben. Krieg bedeutet Tod. In der Covid-Pandemie im Jahr 2021 haben wir unsere ältesten Nächsten verloren: Großmütter, Großväter, Erzieher, Lehrer. Wir durchlebten so viel Schmerz, Sorge und Trauer, und gerade kamen wir wieder auf die Beine, begannen wieder zu leben…Da kam der Krieg. Jetzt verlieren wir unsere jungen Leute. Wieder Tod, wieder Kummer, wieder Schmerz. Und ich kann einfach nicht verstehen: Wozu der Krieg?

Alexandra Skotschilenko am 10. November 2023, in ihrem „letzen Wort“ als politisch Angeklagte vor Gericht

Alexandra Skotschilenko (geb. 1990) ist eine feministische Künstlerin aus Sankt Petersburg. Als Aktivistin der Anti-Kriegs-Bewegung organisierte sie „Friedens-Jams“ und gab die Postkartenserie „Liebe ist stärker als Krieg und Tod“ heraus. Erstmalig wurde sie am 4. März 2022 wegen Teilnahme an einer Protestaktion gegen den russländischen Angriff auf die Ukraine festgenommen, jedoch am selben Tag wurde sie wieder freigelassen. Am 11.April 2022 wurde sie inhaftiert – als erste Person angeklagt nach dem neu geschaffenen Artikel, der „Falschnachrichten gegen die russländische Armee“ unter Strafe stellt. Sie hatte in einem Sankt Petersburger Lebensmittelgeschäft einige Preisschilder durch Imitate mit Antikriegsbotschaften ersetzt…

Am 16. November 2023 verurteilte das Wasiljeostrowski-Gericht in Sankt Petersburg Alexandra Skotschilenko zu sieben Jahren Lagerhaft. Am 1. August 2024 wurde sie ihm Rahmen eines internationalen Gefangenenaustauschs freigelassen und nach Deutschland gebracht.

(Alles zitiert nach: „Alles kann sich ändern“: Letzte Worte politisch Angeklagter vor Gericht in Russland. Herausgegeben von Memorial Deutschland e.V., 2024, ibidem Verlag, Stuttgart, Hannover)

Ihr Kommentar wird nach Freigabe veröffentlicht