Neid des Historikers

Ernst Köhler

Die „Masse“ gibt es gar nicht. Auch sprachlich ist sie glücklicherweise außer Gebrauch. Das „Volk“ scheint immer noch unverzichtbar, aber man versuche einmal, es zu fassen zu kriegen. Jeder weiß schon aus eigener Erfahrung und Beobachtung, wie vielschichtig, komplex und veränderlich das große Kollektiv ist, dem wir angehören. Die Nation ist alles andere als ein Block. Aber ausgerechnet wenn es politisch wird, wenn es auf Genauigkeit und Wirklichkeitsnähe gerade ankäme, greift auch der ehrenwerte Demokrat gern zu sozialen Konstruktionen und Schablonen, meist herabsetzender Färbung: aus Empörung, für die es immer genug Anlass gibt, und aktuell auch aus Sorge um die Zukunft des Ganzen und aus Angst um die Demokratie selbst, die ohne Zweifel wieder bedroht ist. Es sind Kampfbegriffe, eher Flüche. Wir haben die politische Soziologie, die auch sehr präsent ist und uns von diesen gedanklichen Entgleisungen und Kurzschlüssen abbringen kann. Aber das ist bekanntlich mühsam. Es gibt auch ein wesentlich vergnüglicheres Angebot auf dem Markt: den weit ausholenden historischen Familienroman.

Hier begegnet uns das flutschige Volk auf einmal als konkreter Einzelmensch. Als Person in seiner Unverwechselbarkeit, seiner ganzen Komplexität und unbekannten Gedanken- und Gefühlswelt. Aber – das ist das Phänomenale – zugleich als Kind seiner Zeit, seiner Nation, seiner Klasse. Was den Historiker gewissermaßen als einen Armen im Geiste vorführt. Man denke an Alle, außer mir von Francesca Melandri (o.J., Verlag Klaus Wagenbach) über das Italien Silvio Berlusconis und seinen Umgang mit dem Faschismus: mit dem Völkermord und den anderen unsäglichen Massenverbrechen der Italiener seit der Mitte der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts in Ostafrika. Wenn sich hier tatsächlich jemand, wie die Hauptfigur des Romans, immer gleich bleibt; sich eigentlich nie entwickelt; sich immer nur höchst flexibel und mit einigem Glück anzupassen weiß; steinalt dabei wird, aber nie in irgendeinem Sinn des Wortes reift; bis auf eine Tochter vielleicht sein ganzes Leben lang niemals jemand anderes an sich herankommen lässt, so bleibt dieses intelligente moralische Idiotentum doch seiner Umgebung nicht verborgen. Es wird –wenn nicht direkt konfrontiert, dazu ist der Alte dann schon zu dement – so doch aufgedeckt, entblößt. Und zwar bis auf die Knochen. Es wird freigelegt bis in seinen letzten Abgrund hinein. Bei allem öffentlich vorherrschenden Zynismus in Staat und Gesellschaft, bei aller Politik des Vergessens, der Apologetik, der nachträglich herbei gelogenen Nichtverantwortung, der flächendeckenden Schuldlosigkeit, die sich in diesem Werk geradezu erstickend vergegenwärtigt sieht, erscheint das zeitgenössische Italien hier dennoch als eine Gesellschaft, die an sich arbeitet.

Das ist der Westen von heute, das sind cum grano salis wir selber. Der Familienroman kann sich aber auch der Lebenswirklichkeit unter den vernichtenden Herrschaftsformen der einstigen Sowjetunion gewachsen zeigen. So in Das Achte Leben (Für Britika) von Nino Haratischwili (15. Auflage 2023,Ullstein Verlag) über 100 Jahre sowjetisches und postsowjetisches Georgien. Ein kerneuropäisches Land, keine „Grauzone“, woran der halbblinde und indifferente Hocheuropäer von heute freilich erinnert werden muss. (Vgl. jetzt Zaal Andronikaschswili, Europas offene Frage, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung,16. April 2025) Das monumentale literarische Werk empfiehlt Lasha Bakradze, Germanist und Historiker in Tiflis, zur Einführung in die bislang bei uns wenig bekannte Zeitgeschichte seines Landes. (Vgl. Podcast Ostausschuss der Salonkolumnisten, vom 1. Juni 2024). Über die Generationen hinweg sind es hier jeweils die zentralen Frauenfiguren, die immer nur für sich selbst, für ein erfülltes Leben, für das eigene Glück und das der ihnen nahe stehenden Menschen handeln und kämpfen. Nie für das totalitäre Machtsystem und seinen „Neuen Menschen“. Das bleibt den Männern überlassen. Aber auch nicht allen. Der unbedarfte Leser fragt sich, ob es diese elementaren – zerstörbar, aber unbeugsam, unablenkbar – Charaktere der Selbstbehauptung, des Widerstands und der Treue zu den gefährdeten Menschen im engsten Umkreis etwa nur noch in diesem kleinen, kolonial in die Randständigkeit abgedrängten Georgien geben könnte; im großen, imperialen Russland aber so gut wie verbrannt sein könnten.

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