
Schmitteinander, Folge 2
Die Leichen der Opfer nach dem jüngsten Raketenangriff Russlands auf die ostukrainische Stadt Sumy sind kaum unter der Erde, da sandte US-Präsident Donald Trump seinen Unterhändler Steve Witkoff zu Wladimir Putin nach Moskau. Witkoff, wie Trump aus der Immobilienbranche stammend, soll, so hieß es, mit dem russischen Kriegsherrn Möglichkeiten eines baldigen Friedens ausgelotet haben. Nach den mehrstündigen Gesprächen war Witkoff erneut von Putin positiv angetan. Man habe sich über viele Punkte verständigen können, vor allem: man sei dicht dran an einem Friedensabkommen. Trump, dem sehr daran gelegen ist, bald einen „Deal“ mit seinem russischen Amtskollegen zu machen, dürfte erfreut gewesen sein.
Sehr viel weniger erfreut war der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskjy. Denn worüber Witkoff und sein Gegenüber redeten war, neben allerhand „Sicherheitsgarantien“ nicht weniger als ein Gefeilsche um Territorien, die zum Staatsgebiet der Ukraine gehören und die Russland gerne annektieren möchte – wenn es denn dabei bleibt.
Selenskjys Reaktion war daher unmissverständlich: „Alle Territorien gehören zum Einheitsstaat Ukraine“, betonte er bei einer Pressekonferenz in der Hafenstadt Odessa. Nur das ukrainische Volk entscheide über sein Staatsgebiet, alle vorübergehend besetzten Gebiete nicht als ukrainisch, sondern als russisch anzuerkennen, das sei eine rote Linie. Doch genau das hat die US-Regierung unter Donald Trump vor.
Wundern muss man sich indessen nicht über den außenpolitischen Schwenk der USA um 180 Grad, vom Unterstützer der angegriffenen Ukraine zum Buddy des Angreifers Russland. In Folge 1 unseres Beitrags „Schmitteinander“ beschäftigten wir uns mit dem Konzept des geopolitischen Großraums, den der deutsche Staats- und Verfassungsrechtler Carl Schmitt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt und quasi für die Eroberungspolitik der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler maßgeschneidert hatte.
Dieses Denken in Großräumen, heute auch gerne im Gewand der von mehreren Großmachten beherrschten „multipolaren Welt“, scheint die bisherige Weltordnung und das auf freiheitlichen Normen basierende Handeln der westlichen Großmacht USA abgelöst zu haben. Zumal sich die USA unter Trump um völkerrechtliche Schranken nicht mehr kümmert und, wie mehrmals verkündet, selbst gerne Grenzen verschieben und sich Grönland und Kanada einverleiben möchte. Als Dritter im Bunde der Großmächte übt China unter Xi Jinping mit Großmanövern schon mal die Eroberung Taiwans.
Eine neue, imperiale Aufteilung der Welt in Interessens- und Einflusssphären, in welcher die Europäer und mit ihnen die Deutschen ihren Platz noch nicht gefunden zu haben oder schon ganz aus dem Rennen zu sein scheinen. Haben sie ihre Lektion in „Carl Schmitt“ nicht gelernt?
Mit dieser Frage setzt sich unter anderen auch der deutsche Osteuropa-Historiker und Russland-Spezialist Jörg Baberowskis auseinander. Mit seinen Gedanken beschäftigen wir uns in der heutigen Folge 2 unter dem Titel
Jörg Baberowski und die Frage nach Macht und Gewalt
In einem Interview mit der „Neuen Züricher Zeitung“ (NZZ) vom 29. März beschreibt Jörg Baberowski, Professor an der Berliner Humboldt-Universität, auf der einen Seite die prekäre Lage des russischen Feldherren Putin. Dieser habe zwar die Wirtschaft seines Landes auf den Krieg ein- bzw. umgestellt und die Bevölkerung – zumindest hinreichend und dank einer völlig unter staatliche Kontrolle gebrachten Öffentlichkeit – zum Kampf motiviert, bekomme inzwischen aber auch die massive Überdehnung der Kräfte zu spüren. Die in den höheren sechsstelligen Bereich gehende Zahl der Gefallenen schaffe zudem Probleme: Entvölkerung ganzer Landstriche und beginnende Unruhe an der Basis. Putin sei nun quasi zum Erfolg verdammt. Also müsse er nun die Ukraine erobern, zumindest ein Stück, wolle er mit samt seinem Machtapparat nicht untergehen. Für eine Eroberung Europas reichten aber, so Baberowski, die Kräfte bei Weitem nicht aus.
Auf der anderen Seite lobt Baberowski, der in den zurückliegenden Jahren mehrfach ins Kreuzfeuer der Kritik wegen vorgeblich rechtslastiger Äußerungen, zum Beispiel im Zusammenhang mit der Merkelschen Migrationspolitik, geraten war, ausdrücklich Donald Trump. Mit seiner Einstellung als „Deal-Maker“ habe er endlich Bewegung in die erstarrten Verhandlungspositionen gebracht. Zudem wisse man bei Donald Trump jenseits aller Moral, woran man sei, denn
„(…) Wenn ich Trump wähle, bekomme ich auch Trump. Wenn ich Friedrich Merz wähle bekomme ich Saskia Esken. (…) So nackt ist die Macht noch nie ausgestellt worden. Aber genau darum geht es. Wer Trump moralisch beikommen will, hat schon verloren.“
Was folgt ist ein belehrender Exkurs zum Thema „Macht“:
„‘Macht ist das, was der Mensch aus ihr macht‘, sagt Carl Schmitt. Sie ist weder gut noch böse. Man kann sie nicht besitzen, sie geschieht vielmehr, wenn Menschen zusammenkommen. Hannah Arendt sprach von der Macht als einer produktiven sozialen Beziehung, und sie unterschied Gewalt von Macht. Gewalt bricht aus, wo Macht verloren ist. Wo hingegen Macht ist, vollzieht sich das Geschehen geradezu auf natürliche Weise, weil wir internalisiert haben, was zu tun und zu beachten ist, weil Macht von Verantwortung entlastet, wir Zeit sparen, wenn andere Entscheidungen treffen. Menschen haben, wie Niklas Luhmann sagt, ein Interesse daran, zu gehorchen. Wir wissen einfach, woran wir sind. Wir müssen begreifen lernen, dass es ein Leben ohne Macht und Hierarchien nicht gibt, und produktiv damit umgehen.“
Bemerkenswert an dieser Einlassung ist, wie die jüdische Philosophin und Aufklärerin in Sachen Faschismus Arendt und der deutsche Soziologe und Systemtheoretiker Luhmann quasi zu argumentativen Stützen der Schmittschen Theorien gemacht werden. Die Passage erhellt vor allem jedoch, was Baberowski etwas weiter vorne im Interview über Trump, man muss sagen: anerkennend, äußert:
„Er stellt den Primat des Politischen mit aller Brutalität wieder her. Die Politik kommt vor dem Recht, sie entscheidet, was Recht sein soll – so könnte man diese Haltung zusammenfassen. Ich fürchte, dass sich diese Haltung auch in Europa verbreiten wird.“
Das ist Carl Schmitt pur, siehe die entsprechenden Zitate in „Schmitteinander“ Folge 1 . Fragt sich, ob das „Ich fürchte…“ an dieser Stelle ernst oder ironisch gemeint ist. Ich tippe auf Letzteres.
Folgt man Baberowskis Einlassungen, darf sich niemand wundern, dass Trump, wie soeben im Bundesstaat Wisconsin geschehen, im Zusammenhang mit der Neubesetzung einer Richterstelle Wählerstimmen einfach kauft. Trumps oberster Helfer Elon Musk machte einen Millionen-Betrag locker und drückte höchstselbst den Leuten Dollars in die Hand, ein Vorgang, der gemäß US-Bundesgesetz (Federal Law, U.S. Code Title 18, Section 597) und gemäß entsprechenden Gesetzen in jedem US-amerikanischen Bundesstaat streng verboten ist. Trump und Musk tun es trotzdem, und wie auch inzwischen bei anderen Gelegenheiten traut sich die (noch amtierende) Justiz nicht mehr aus der Deckung. Glücklicherweise hat sich trotz dieser unverfrorenen Intervention am Ende doch die liberale Kandidatin durchgesetzt. Man kann es als Zeichen beginnenden Widerstands gegen Trump deuten.
Baberowski ist offensichtlich davon überzeugt, dass Europa, jedenfalls der (noch) liberale Teil davon, seine Haltung gegen diese ur-politischen Kräfte im Sinne Carl Schmitts wird aufgeben müssen. Vor diesem Hintergrund müsse es zudem lernen, mit Gewalt in ihrer reinen, physischen, brachialen Form neu umzugehen. Zu sehr habe man sich in unseren europäischen Gesellschaften darauf verlassen, dass der Staat die Gewalt eindämmen könne:
„Die Gewalt ist eingehegt und verdrängt worden. Das ist ein Gewinn. Aber dieser Gewinn hat einen Preis: Wir haben verlernt, mit Männern umzugehen, für die Gewalt eine Machtressource ist, weil sie sich auf andere Weise keinen Respekt verschaffen können.“
Man bekomme halt diese Männer (früher Kreuzritter und Seeräuber, heute Messerstecher und Bombenleger) nicht aus der Welt.
An dieser Stelle zeigt der Interviewer Peer Teuwsen – wie es die NZZ bei solchen Grundsatzfragen gerne tut – mit spitzem Finger auf Deutschland und fragt:
„Gerade die Deutschen begegnen vielen Problemen mit Moral. Warum haben die Deutschen die Moral wie ein Brett vor dem Kopf?“
(Man könnte zurückfragen, ob die Schweizer Politik sich hier positiv abhebt, da bei ihr seit eh und je Neutralität und kaum verhülltes Eigeninteresse vor jeder Moral kommt, siehe den jüngsten Beitrag von Delf Bucher in diesem Blog.)
Baberowski gibt auf Teuwsens Frage jedoch zunächst den Ratlosen, bringt den Fall Deutschland dann aber recht resolut auf den Punkt:
„Die Politik hat sich entpolitisiert, sie operiert nur noch im Modus der Moral, verteilt Haltungsnoten, entscheidet aber nicht mehr nach sachlichen Gesichtspunkten. Das Kalte, die Verantwortungsethik, hat sich von der Macht verabschiedet.“
Hier kommt offensichtlich Reinhart Koselleck ins Spiel. In seinem von Carl Schmitt inspirierten, breit rezipierten und einflussreichen Standardwerk „Kritik und Krise“ beschreibt Koselleck die friedensstiftende und -sichernde Kraft des europäischen Absolutismus. Dieser habe höchst erfolgreich die jahrzehntelangen mörderischen Religionskriege beendet, wurde dann jedoch von der an strengen moralischen Kriterien ausgerichteten Kritik der Aufklärung an den Herrschaftspraktiken beseitigt, weithin sichtbar vor allem mit dem welthistorischen Ereignis der Französischen Revolution.
Schuld an den aktuellen deutschen Verhältnissen seien laut Baberowski die Medien und das Bildungswesen, sozusagen die heutigen Agenten der Aufklärung, die die moralischen Narrative unters Volk bringen und so der Politik den Wind aus den Segeln nehmen. Von ferne zu erkennen sind in dieser These die Rollkommandos, mit denen Trumps Exekutoren den Medien- und Bildungsbereich seines Landes, insbesondere die Universitäten, einschüchtern und ganze Forschungszweige zerlegen. Mit massiven Folgen, denn nicht nur ein Timothy Snyder und eine Marci Shore verlassen inzwischen die USA. Von Baberowski hierzu keine Silbe.
Oder es war nicht die moralisch gefestigte Aufklärung, sondern, wie Baberowski schwankend mit Verweis auf Rüdiger Safranski nahelegt, die dunkle deutsche Romantik und der verhängnisvolle Hang zum Irrationalen, welche ja so gut wie an allem schuld sind, was nach ihnen an politischem Ungemach kam.
Baberowski geht dieser Spur nicht weiter nach. Vielmehr plädiert er dafür, das mag die Quintessenz des Interviews sein, die Geschichte und die Geschichtsschreibung, für die er als Historiker steht, sowie auch die aktuelle politische Lage nicht mit den Maßstäben der Moral zu messen, sondern allein an einer moralfreien, vor-rechtlichen, rein machtorientierten Politik und dem Faktum einer letztlich unbesiegbaren Gewalt als Konstante jeder menschlichen Gesellschaft.
Auf realpolitischem Terrain ist die Sache für Baberowski ausgemacht: Dass Russland Europa erobern und unterwerfen wolle, hält er für eine Schimäre. Die russische Armee sei nicht einmal imstande, Polen anzugreifen. Putin ist für ihn im Übrigen ein Zyniker, der je nach Lage nach einem Mittel greife, das hinreiche, seine und die Macht seiner Clique und seines Apparats zu sichern. Es sei, auch angesichts der nun beginnenden Debatte um Aufrüstung, bedauerlich, dass die Europäer, anders als der sehr ähnlich wie Putin gestrickte Trump, das nicht einsehen könnten.
Gesehen durch die Schmittsche Brille, die sich Baberowski aufgesetzt hat, machen also die Europäer und vor allem die Deutschen eine äußerst schlechte Figur. Geopolitisches und machtorientiertes Denken in Großräumen sei völlig ausgeblendet.
Die Frage ist, ob solche Perspektiven auf deutscher Seite sich ausschließlich im akademischen Raum und bei einigen Stammtischstrategen verschiedener politischer Couleur finden lassen. Anders gefragt: Hat oder hatte aber die deutsche Politik von je her „die Moral wie ein Brett vor dem Kopf“?
In „Schmitteinander, Folge 3“ möchte ich mich demnächst damit auseinandersetzen.
Peer Teuwsen: „So nackt wie bei Trump ist die Macht noch nie ausgestellt worden“, sagt der Historiker Jörg Baberowski. – Interview in der „NZZ am Sonntag“, 29.03.2025 (paywalled)
Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt. Erstausgabe: Karl Alber, Freiburg/München 1959. Taschenbuchausgabe: Suhrkamp, Frankfurt am Main 2024. ISBN 978-3-518-27636-5
Abbildung: Ausschnitt aus dem Gemälde „Schlacht bei Waterloo“ von William Sadler (1815)