Schmitteinander, Folge 3

Peter Conzelmann

Am 6. Mai wurde Friedrich Merz zum neuen Bundeskanzler gewählt. Der Start war denkbar schlecht: Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik wurde der deutsche Regierungschef nicht im ersten Wahlgang gewählt. Wer von den Abgeordneten der Koalition aus CDU/CSU und SPD seine oder ihre Stimme im ersten Wahlgang dem Kanzler in spe verweigert hat, blieb unklar. Nur mit Zustimmung der oppositionellen Grünen und der Linkspartei konnte noch am selben Tag ein zweiter Wahlgang vorgenommen werden, diesmal mit Erfolg.

Profitiert haben dürfte von diesem Eklat vor allem die AfD, denn die Uneinigkeit im Lager der kommenden Regierung ist offensichtlich geworden. So entstand kein überzeugendes Bild davon, dass das Kabinett um Friedrich Merz die Aufgaben und Herausforderungen, die derzeit für Deutschland und Europa im Raum stehen, wird meistern können. Will man plumpe Rachegelüste ausschließen, so ist offensichtlich einigen Abgeordneten das eigene moralische Hemd näher gewesen als die realpolitische Jacke.

Das scheint zu der Diagnose zu passen, die der Osteuropa-Historiker und bekannte Publizist Jörg Baberowski in einem Interview mit der „NZZ am Sonntag“ vom 29. März 2025 gestellt hatte, siehe den Betrag auf unserem Blog mit dem Titel „Schmitteinander Folge 2 – Jörg Baberowski und die Frage nach Macht und Gewalt“.

Baberowski möchte nicht nur nicht – so der Tenor des Interviews – sein Fach, die Geschichte bzw. die Geschichtsschreibung, an Maßstäben der Moral ausrichten, vielmehr müsse man ganz generell ihr wichtigstes Thema, die Politik, ganz unter moralfreien, vor-rechtlichen, rein machtorientierten Gesichtspunkten betrachten. Für Baberowski, für den Donald Trump in dieser Hinsicht eine Art Offenbarung zu sein scheint und der sich im Interview mehrfach offen auf den rechtsextremen Staatsrechtler und Nazi-Unterstützer Carl Schmitt bezieht, seien nun mal schiere Macht und pure Gewalt die Konstanten jeder menschlichen Gesellschaft.

Die Europäer und vor allem die Deutschen machen aus Sicht Baberowskis hingegen eine äußerst schlechte Figur, denn geopolitisches und vor allem ein machtorientiertes Denken in den von Carl Schmitt vorgedachten „Großräumen“ sei völlig ausgeblendet. Für diese mangelhafte Haltung standen nicht nur die gescheiterte Ampelkoalition, sondern im Wesentlichen auch alle Vorgängerregierungen der letzten Dekaden.

Die Frage, die am Ende des Beitrags „Schmitteinander Folge 2“ gestellt wurde, lautete: Hat oder hatte die deutsche Politik von je her, wie es der Fragesteller von der NZZ Peer Teuwsen auszudrücken beliebte, „die Moral wie ein Brett vor dem Kopf“?

Wir gehen dieser Frage nach unter der Überschrift

Egon Bahr und die deutsche Ostpolitik – ein Denken in Großräumen?

In seinem Beitrag für die Zeitschrift „Merkur“ vom März 2025 unter dem Titel „Rückkehr zu Bahr?“ beschäftigt sich der an der Universität Oxford lehrende Ian Klinke mit dem Erbe bzw. dem Einfluss der deutschen Ostpolitik unter Kanzler Willy Brandt – anfangs wurde sie „neue deutsche Ostpolitik“ genannt – auf die nachfolgenden Regierungen bis zum heutigen Tage.

Maßgeblicher Architekt dieser Ostpolitik war, neben Brandt selbst, der gelernte Kaufmann und Journalist Egon Bahr (1922 – 2015), ehemaliger Pressesprecher Brandts zu dessen Zeiten als Berlins Regierender Bürgermeister. Ab 1967 war Bahr Leiter des Planungsstabs des von Brandt als Minister angeführten Auswärtigen Amtes zu Zeiten der Großen Koalition unter Kanzler Kurt Georg Kiesinger. Unter Willy Brandt als Kanzler wurde Bahr 1969 dann Staatssekretär im Bundeskanzleramt und Berlin-Beauftragter der Bundesregierung.

Die Bahr-Brandtsche Ostpolitik sei, so Klinke, auch nach der sogenannten „Wende“ von 1983, dem Übergang zum konservativen Kanzler Helmut Kohl, erhalten geblieben, und sie blieb auch die Blaupause der auf Russland bezogenen deutschen Politik der beginnenden 2000er Jahre. Wenn heute immer wieder in der Öffentlichkeit und aus verschiedenen Richtungen nach einer „Verständigung mit Russland“ in Sachen Ukraine gerufen wird, so wird meist auf die inzwischen allgemein als erfolgreich anerkannte Ostpolitik der 1970er Jahre verwiesen. Im Hinblick auf die Bedenken und Befürchtungen der dem sowjetischen Imperialismus entkommenen osteuropäischen Staaten wurde und wird stets postuliert und darauf beharrt, dass Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland aufzubauen sei – eine Haltung, die laut Klinke, von den Regierungschefs Gerhard Schröder und Angela Merkel bis zu Olaf Scholz eingenommen worden sei. Kritische Gegenstimmen im Lager der SPD wie die etwa von Markus Meckel (von April bis Oktober 1990 Mitglied der einzigen frei gewählten Volkskammer und von April bis August 1990 Minister für Auswärtige Angelegenheiten der DDR, danach Bundestagsabgeordneter von 1990 bis 2009), der – wie Klinke in einem Gespräch mit Wolfgang Thierse erfahren hatte – von „Egons imperialem Denken“ sprach, wurden geflissentlich überhört.

„Wandel durch Annäherung“, so hieß die Parole, unter der Egon Bahr am 17. Juli 1963 – zwei Jahr nach dem Bau der Berliner Mauer – ein Referat auf einer Tagung der Evangelischen Akademie Tutzing hielt. Sie wurde zur Maßgabe dessen, was als „(neue) deutsche Ostpolitik“ und verbunden mit dem Namen Willy Brandt in die Geschichtsbücher eingehen sollte. In einem ausführlichen Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vom 15. Juli 2023 setzt sich der Historiker Heinrich August Winkler, Mitglied der SPD, mit den Hintergründen und Auswirkungen dieser denkwürdigen Rede auseinander. Wichtig ist ihm dabei folgender Hinweis:

„Ein fundamentaler Unterschied zwischen damals und heute wird dabei meist übersehen oder verschwiegen: Die Sowjetunion unter Breschnew hatte ein geradezu existenzielles Interesse an der Sicherung ihres durch den Ausgang des Zweiten Weltkriegs erreichten europäischen Besitzstandes und der Anerkennung der 1945 gezogenen Grenzen zwischen „West“ und „Ost“. Sie war, so gesehen, zu einer konservativen, auf die Wahrung des Status quo ausgerichteten Macht geworden. Das Russland Putins hingegen ist eine revisionistische Macht, die vor Krieg nicht zurückschreckt, um so viel wie möglich vom Territorium der 1991 aufgelösten Sowjetunion zurückzugewinnen und von ihrem Einflussbereich wiederherzustellen.“

Egon Bahr habe, laut Winkler, ein großes Ziel vor Augen gehabt, nämlich die

„… allmähliche(…) Überwindung der beiden Militärblöcke von NATO und Warschauer Pakt und ihrem Aufgehen in einem gesamteuropäischen Sicherheitssystem, dessen Garantiemächte die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion sein sollten. Erst wenn der Ost-West-Gegensatz überwunden sei, könnte auch die Teilung Deutschlands überwunden werden. Auf dieses nationale Ziel hin war die Ostpolitik angelegt, und an dieser Priorität hatte sich die Politik der Bundesrepublik auszurichten. Bahr dachte in nationalstaatlichen Kategorien; die supranationale Integration Westeuropas lehnte er ab. Er bewunderte den französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle und orientierte sich am Reichsgründer Otto von Bismarck, den er als „Virtuosen des Möglichen“ bezeichnete.“

Klinke wiederum weist speziell auf die enge und freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen Egon Bahr und dem US-amerikanischen US-Sicherheitsberater und späteren Außenminister Henry Kissinger hin, ohne dessen Sympathie, so Klinkes Einschätzung, die Bahrsche Politik nicht die Rückendeckung aus Washington bekommen hätte. Im Gegenzug haben sich sowohl Bahr als auch Brandt in Bezug auf das Engagement der USA in Vietnam und die dortigen, von Kissinger mit verursachten Eskalationen mit Kritik zurückgehalten.

Auch später, nach dem Kanzlerwechsel im Jahr 1974 und über die Ära von Kanzler Helmut Schmidt hinaus, blieb der Einfluss des politischen „Realisten“ Egon Bahr auf die Bonner, später Berliner Politik groß und sorgte dafür, dass das große Ganze der Machtballance – und das meinte den Bezug zu den Großmächten, insbesondere zur Sowjetunion bzw. später zu Russland – gewahrt blieb. Dazu musste man auch bereit sein, so Klinke, „kleinere Kriege und andere Formen der gewaltsamen Unterdrückung zu akzeptieren“. Winkler wird an diesem Punkt noch deutlicher:

„In ungewöhnlich krasser Form hat Egon Bahr (…) zum Ausdruck gebracht, dass für Bürgerrechtsbewegungen in seinem Konzept kein Platz war. Die erste unabhängige Gewerkschaft des Ostblocks, die im Spätsommer 1980 im polnischen Danzig gegründete Solidarność, empfand er von Anfang an als Störfaktor. Auf die Frage, ob die Sowjetunion ein Recht habe, in Polen militärisch zu intervenieren, falls dieses unter dem Einfluss von Solidarność seine Zugehörigkeit zum Warschauer Pakt infrage stellen sollte, antwortete er im Herbst 1981: „Aber selbstverständlich.“ Er begründete das damit, dass alle nationalen Ziele der Erhaltung des Friedens untergeordnet werden müssten.“

Klinke führt weitere Belege für Bahrs bemerkenswerte Treue gegenüber dem bestehenden Staatensystem an. In einem Gespräch mit Marieluise Beck habe er erfahren, Bahr habe in den 1990er Jahren argumentiert, dass der Balkan „ausbluten“ müsse. Dies sei als „Bekenntnis zum jugoslawischen Rumpfstaat unter Slobodan Milošević und seinen bosnisch-serbischen Schergen“ zu werten. Bahr habe auch kein Problem damit gehabt, so Klinke, 2014 die Annexion der Krim durch Russland zu „respektieren“ und von Sanktionen gegen den Aggressor abzuraten. Putin sei in seinen Augen stets ein „rational kalkulierender Politiker“.

Bahrs Ruf als erfolgreicher Außenpolitiker und gewiefter Diplomat blieb lange bestehen. Sein Rat wurde allseits gerne gesucht, er verfasste einige Bücher und saß in Talkshows. Erstaunlich sei, vermerkt Klinke, neben dem Zuspruch aus den Parteien der Mitte auch der zunehmende Beifall, den die Bahrsche Politik im Fortgang des Krieges Russlands gegen die Ukraine von den politischen Rändern bekomme, zum einen durch Sarah Wagenknecht, zum anderen von Rechtsauslegern wie, in den Worten Klinkes, „AfD-Vordenker Karlheinz Weißmann“. Für das rechte Blatt „Junge Freiheit“ stand Bahr als Interviewpartner zur Verfügung.

Dies alles vor Augen ist es nachvollziehbar, wenn Klinke schlussfolgert, dass Egon Bahr zu einer „Normalisierung der Geopolitik innerhalb der deutschen Sozialdemokratie“ beigetragen habe. Mehr noch:

„Zu Beginn des Kalten Krieges wurden Konservative, die es gewagt hatten, im Parlament die Sprache der Geopolitik zu verwenden, noch niedergeschrien. Bahr sprach jedoch schon bald ganz unmissverständlich von Einflusssphären, Machtvakua und Großräumen.“

Es steht völlig fern, dass Egon Bahr im eindeutig nationalsozialistisch geprägten ideologischen Kontext eines Carl Schmitt zu verorten ist. Sein Ziel war, man muss ihm das zugutehalten, nicht imperiale Ausdehnung, sondern Friedenssicherung und, unter dieser Prämisse, das nationale Projekt der deutschen Wiedervereinigung.

Aber um dieses Ziel zu erreichen und wie viele andere politische Theoretiker und Praktiker unterschiedlicher Couleur – oder Historiker vom Schlage eines Jörg Baberowski – hat er offensichtlich die Schmittsche Denkschule des politischen „Realismus“, besonders in Bezug auf das Konzept der geopolitischen Großräume, absolviert. Der Preis dafür schien ihm nicht zu hoch zu sein.

Hinweis: Wer sich näher bzw. umfangreich mit der deutschen Ostpolitik und dem Beitrag Egon Bahrs hierzu befassen möchte, dem bzw. der sei besonders das Buch des britischen Historikers Timothy Garton Ash „Im Namen Europas – Deutschland und der geteilte Kontinent“ (Hanser, München 1993, ISBN 3-446-15858-8) empfohlen.

  • Delf Bucher

    8.5.2025, 10:59

    Spannende Auslegeordnung, wie die imperialen Netzwerke der Diplomatie geknüpft werden und ganz à la Kissinger (Stichwort Indonesien/Osttimor) auch Egon Bahr den Balkan ausbluten lässt. Was aber ebenfalls beachtet werden sollte: Hinter der aussenpolitische Maxime «Annäherung durch Wandel» steckte auch ein gewaltiger ökonomischer Trigger – denken wir an die Mannesmann-Röhren, Krupp-Stahlwerke und Kredit-Deals der Deutschen Bank.

    Auf Delf Bucher antworten Abbrechen

    Ihr Kommentar wird nach Freigabe veröffentlicht

  • Ihr Kommentar wird nach Freigabe veröffentlicht