
Vom Liberalismus der Furcht
Die Autorinnen und Autoren, die im hier vorliegenden Blog „Zeitenwende“ kritische Beiträge zum aktuellen Weltgeschehen veröffentlichen, sind eine lose Gruppe. Näheres hierzu in den Editoralen im Textarchiv. Es gibt keine Redaktion im klassischen Sinn, keinen Chefredakteur bzw. keine Chefredakteurin, keinen Herausgeber bzw. keine Herausgeberin. Wir sind eher ein freundschaftlicher Kreis, ein Netzwerk mit mehr oder weniger engen Verbindungen untereinander.
Wichtig ist uns der Austausch untereinander, der nicht grundsätzlich auf das unmittelbare Veröffentlichen von Texten oder irgendwelche inhaltliche Linien bezogen ist. Ein Forum für Meinungen, Haltungen und Informationen, die Möglichkeit zur offenen Diskussion, die sowohl Konsens als auch Widerspruch zulässt, ein Raum, der auch Betroffenheit und Ratlosigkeit zulässt, in dem vor allem aber auch Fragen gestellt werden können. In diesem Zusammenhang sprechen wir auch immer wieder über unsere Lektüren, geben uns Hinweise auf spannende Texte und interessante Autorinnen und Autoren.
Der hier wiedergegebene Austausch von Mails zwischen Ernst Köhler und Peter Conzelmann ist ein Beispiel für diesen Diskurs – und soll auch eine Empfehlung sein für die dort angesprochenen Bücher.
Lieber Ernst, (…) Was mich anbelangt, so hätte ich mich – auch dank Deiner Empfehlungen und Hinweise – in den letzten Monaten nicht mit einigen Themen und Fragen auseinandergesetzt.
An der Stelle: Das Buch von Samuel Moyn ist keine einfache Lektüre (für mich), aber sehr produktiv, weil es mir hilft, verschiedene Richtungen des Liberalismus (besser) zu unterscheiden, auch in historischer Hinsicht, und vor allem die Auswirkungen der Ereignisse (Kriege und Totalitarismus) der 20. Jahrhunderts auf ihn besser verstehen zu können. Kalter-Krieg-Liberalismus war mir bis dato gar kein Begriff, aber da hat sich nun ein ziemlich präzises Bild ergeben, in welches ich nun auch einen von mir (vor allem wissenschaftstheoretisch) sehr respektierten Denker wie Karl Popper besser einordnen kann. (…) Herzliche Grüße, Peter
Lieber Peter, volle Übereinstimmung! Auch was Samuel Moyn angeht. Judith Shklar ist eine doch arg späte Entdeckung für mich („Liberalismus der Furcht“, 1989). Sie hinterfragt für mich sogar die andere große jüdische Exilantin – Hannah Arendt, was ich mir bisher kaum vorstellen konnte. (…) Herzliche Grüße, Ernst
Lieber Peter, noch zu Samuel Moyn über Karl Popper: gelesen hat man zur politischen Theorie ja schon einiges, aber jeweils zu isoliert. So daß einem seine Belesenheit wie ein Friedhof vorkommt. Der Verriß von Popper im Kontext der vernichtenden Selbstbeschädigung des Liberalismus spätestens im Kalten Krieg läßt auch diesen einbalsamierten Toten wieder auferstehen. Für mich ist Judith Shklar überhaupt eine total verspätete, grundlegende Entdeckung. Die uns mehr zu sagen gar, was zur Verteidigung der Demokratie heute ansteht als der gesamte Rest. In meinem Fall wären das: Hannah Arendt, die in „Vita Activa“ die Wirtschaft glatt ausklammert; und Michel Foucault, der mit der Aufklärung bricht. Herzliche Grüße, Ernst
Lieber Peter, unsere späte Entdeckung von Judith Shklar (über Samuel Moyn) eröffnet aus meiner Sicht neue Perspektiven für die Verteidigung der auch in Deutschland bedrohten Freiheit. Ich nenne hier einmal drei Fronten: die Konfrontation mit der AfD und ihren Wählern; der Widerstand gegen den schon laufenden Verfassungsbruch der neuen Regierung an der Grenze; die die deutschen Israelpolitik.
Der letzte Punkt ist vermutlich der weitaus Schwerste, weil uns die Verantwortung für den Holocaust den aufrechten Gang in der Frage der Menschenrechte anhaltend erschwert. Nein, die Beine wegschlägt. Aber überall kann uns Judith Shklar helfen, uns persönlich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Und das sind immer die vielen unerträglichen, zerstörerischen Ungerechtigkeiten, die sich unser unzweifelhaft liberal-demokratischer Staat ununterbrochen leistet.
Die Opfer unserer Staatspolitik, der Behörden und anderen Machtzentren – auch der wirtschaftlichen, zu Worte kommen zu lassen. (So in meiner bisher nur sehr fragmentarischen und ungeduldigen Lektüre am deutlichsten in: Judith Shklar „Über Ungerechtigkeit“, 1990, dt. 2021). Herzlichen Gruß, Ernst
Lieber Ernst, Noam Chomsky sagte in einem Interview, es könne (formal) autokratische Regime geben, die nach innen gerecht und/oder nach außen friedlich seien, und es könne (formal) liberale und demokratische Regime geben, die nach innen ungerecht und/oder nach außen aggressiv seien. Das war natürlich in erster Linie auf sein eigenes Land gemünzt, öffnet andererseits auch den Blick dafür, dass Liberalität und Demokratie nicht per se für Gerechtigkeit und Frieden sorgen.
Unter den sog. „Vätern der Verfassung“ der USA befanden sich Männer, die als Sklavenhalter zu großem Wohlstand gelangten. Das liberale Mutterland Großbritannien war im 19. Jahrhundert die größte imperiale Macht, welche der Mehrheit der Menschen unter der Krone keine gleichen Rechte einräumte, lange Zeit am Sklavenhandel gut verdiente, Aufstände brutalst unterdrückte (Irland) und mit ihrer den eigenen Interessen folgenden Raumordnung viele der Probleme schuf, vor denen wir heute stehen (Nahost, indischer Subkontinent).
Liberalität, die als Manchester-Kapitalismus daherkommt oder sich an dem orientiert, was man heute „Neoliberalismus“ (also nicht der ältere Neo- oder Ordoliberalismus) nennt, im Kern die Wirtschaftspolitik nach der Chikagoer Schule (Milton Friedman et. al.), Liberalismus, der nur das völlig entfesselte Libertäre meint (Mileis Kettensäge), führt letztlich in die Unfreiheit, weil sich in diesem Riesen-Monopoly die Macht über kurz in immer weniger Händen konzentrieren wird. Der Gang in diese Richtung zeichnet sich aktuell in den USA ab.
Vor diesem Hintergrund finde ich Shklars Ansatz eines „Liberalismus der Furcht“ überaus erhellend und völlig richtig.
Aus gegebenem Anlass: Vermeidung der unmittelbaren Bedrohung von Leib und Leben durch Hunger und Armut, rechtliche Willkür, Ausbeutung durch Frondienste: Der „gemeine Mann“ des frühen 16. Jahrhunderts hat sich genau wegen dieser Zustände empört. Herzliche Grüße, Peter
Lieber Peter, für Dich wäre vielleicht auch das berühmte erste Buch von Judith Shklar interessant: „After Utopia. The Decline of Political Faith“ (…). Ich habe nur das letzte Kapitel darin „The End of Radicalism“ gelesen, in dem sich auch der “ Ordo-Liberalismus“ als Kalter-Krieg-Rest- und Krüppel-Liberalismus zurückgewiesen und abgetan sieht. Ich kann Dir das Buch gern ausleihen. Herzliche Grüße, Ernst
Um diese Bücher geht es:
- Samuel Moyn, Der Liberalismus gegen sich selbst – Intellektuelle im Kalten Krieg und die Entstehung der Gegenwart. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, ISBN 978-3518588161
- Judith Shklar, Über Ungerechtigkeit – Erkundungen zu einem moralischen Gefühl. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021, ISBN 978-3751803380
- Dies., Der Liberalismus der Furcht. Matthes & Seitz Verlag, 3. Auflage, Berlin 2020 (mit Kommentaren von Axel Honneth, Michael Walzer, Seyla Benahbib und Bernard Williams), ISBN 978-3882219791
- Dies., Über Hannah Arendt. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2020, ISBN 978-3957577979
- Dies., After Utopia. The Decline of Political Faith. Princeton University Press 1957, erneut als paperback edition 2020 (mit einem kurzen Vorwort von Samuel Moyn), ISBN 978-0691200859
Abbildung: Ausschnitt aus einer Barrikadenszene während der Märzrevolution 1848
Christina Herbert-Fischer
16.5.2025, 19:39
Sieht aus, wie eine tolle Buchliste. Ist das Buch von Judith Shklar auch für nicht ganz so gebildete Menschen gut lesbar? Ich suche immer wieder nach Anregungen und euer Dialog hat mich neugierig gemacht. Das Bild zu Beginn, war auch ein Dejavu, ich lese gerade über die Märzrevolution in Baden, sehr passend. Da geht es auch um die Auseinandersetzung der Radikalen mit den Liberalen, Fickler, Hecker, Struve contra der Refompolitik des Landtags.
Peter Conzelmann
16.5.2025, 21:50
Liebe Frau Herbert-Fischer, die Texte von Judith Shklar sind gut lesbar, die Argumentation ist klar und nachvollziehbar.
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