Reisenotizen aus Litauen / 1

Peter Conzelmann

Zarasai und Ignalina

Osteuropa war lange Zeit für mich ein weitgehend unbekanntes Terrain. Weder in der Schule noch im Studium habe ich mich für die jeweils interne Geschichte der Sowjetunion und der in ihrem Machtbereich befindlichen Länder des „Warschauer Pakts“ sowie die besonderen gesellschaftlichen und politischen Verflechtungen innerhalb dieses Machtbereichs interessiert. Die in Kindheit und Jugend in einem konservativen Elternhaus antrainierten Vorstellungen vom sogenannten „Eisernen Vorhang“ und den beiden sich durch atomare Bewaffnung in Schach haltenden Machtblöcken wirkten wie ein mentaler Abwehrschirm, der dem Dahinterliegenden eine nahezu kompakte, eintönige Form gab: ein graues und gleichförmiges Reich des Kommunismus vom Arktischen bis zum Schwarzen Meer, von der „Zonengrenze“ bis nach Sibirien. Es schien darin nichts zu geben, für das man sich interessieren könnte. Der Westen schien dagegen, nach einer gängigen Metapher, zu leuchten.

Es gab Ausnahmen. Am Ehesten präsent war die Tschechoslowakei durch den „Prager Frühling“ und seine brutale Niederschlagung, durch die spannende Szene aus Dissidenten und international renommierten Autoren und Künstlern und das kulturelle Erbe aus den Zeiten des Habsburger-Reiches. Ungarn wurde, wie auch Jugoslawien, von Freunden und Bekannten als beliebtes, weil vor allem günstiges Urlaubsziel gehandelt. Später erst gewann Polen mit der Gewerkschaft „Solidarność“ Aufmerksamkeit, aber unter rein politisch aktuellen, nicht historischen Vorzeichen. Selbst das mit Gorbatschow beginnende Tauwetter änderte nicht viel an dem eklatanten Desinteresse.

Marginal blieb die Lektüreerfahrung mit Texten von deutschen Autorinnen und Autoren, die biographisch mit den Regionen in Osteuropa verbunden waren. Literatur aus Polen, Bulgarien, Rumänien, Ungarn war etwas für Spezialisten, eine Differenzierung der Stimmen aus den russischen Landesteilen noch mehr.

Selbst die nachhaltig betriebenen Studien über die Nazi-Herrschaft, deren Aufstieg und Verbrechen, führten mich kaum näher an die spezifische Geschichte, die geopolitische Situation und vor allem die Kultur der Länder und Regionen heran, die für so lange Zeit im Machtbereich des Moskauer Regimes standen. Gerade, was das Kriegsgeschehen im Osten betrifft, so ging es vornehmlich um die Auseinandersetzung mit der Roten Armee, die rundweg als russische Armee identifiziert wurde, später auch um die Beteiligung der Wehrmacht an den Massenmorden, doch auch hier ohne Bezug zu einer spezifischen Region.

Speziell das Baltikum, der aus den Länder Litauen, Lettland und Estland bestehende geographische Raum, bildete einen weißen Fleck auf dieser Landkarte. Es blieb lange ein für mich exotisch klingender Name ohne konkrete kulturelle und politische Verortung, eine Leerstelle. Wie so vielen, so waren für mich die Begriffe „Sowjetunion“ und „Russland“ synonym.

Dass sich das änderte, hat persönliche Gründe: Die Familie mütterlicherseits meiner Frau stammt aus Litauen. So erfuhr ich aus dieser Quelle einiges über dieses kleine Land an der Ostsee mit heute weniger als drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern.

2008 unternahmen wir eine erste Reise in den Ort im Dreiländereck Litauen-Lettland-Belarus, an welchem die Großeltern lebten und von wo aus sich die Großmutter mit ihren Kindern in Richtung Westen aufgemacht hatte. Erstmals kam ich so in unmittelbare Berührung mit der baltischen, speziell litauischen Geschichte.

Aus diesen ersten Erfahrungen heraus entwickelte sich eine neue Perspektive auf die europäische Geschichte, die später durch verschiedene historiographische Arbeiten, insbesondere von Timothy Snyder, beträchtlich erweitert wurde. Die von Snyder so bezeichneten „Bloodlands“ wurden für mich zum paradigmatischen Szenarium eines imperialistischen Machtstrebens, das für viele Jahre auf unserem Teil des Kontinents völlig missachtet worden war.

Grundsätzlich aber hat sich meine Einstellung erst durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ab Februar 2022 geändert. Die Ukraine wurde für mich herausgeholt aus dem Schatten, in dem sie für mich lag, ich erfuhr sie als Land mit eigener Sprache, Kultur und Geschichte, nicht weniger berechtigt zu nationaler Eigenständigkeit und Selbstbestimmung wie die ehemals im Warschauer Pakt zwangsvereinigten Nationen. In Verbindung damit steht – auch dies eine Folge der Leseerfahrung mit Büchern von Timothy Snyders – eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem systematischen Genozid der Nazis in Osteuropa, insbesondere an der jüdischen Bevölkerung.

Im April dieses Jahres reisten wir ein weiteres Mal ins Baltikum. Diesmal sollte neben den Stationen in Litauen auch die lettische Hauptstadt Riga auf dem Besuchsprogramm stehen. In den folgenden Reisenotizen verbinde ich unmittelbare Reiseerfahrungen mit aus verschiedenen Quellen stammendem Hintergrundwissen, das meinem Nachholen der lange Zeit durch mich sträflich vernachlässigten osteuropäischen Geschichte geschuldet ist.

„Die Balten wissen, wenn große Länder die Welt unter sich aufteilen, fragt niemand nach ihnen.“

Jüri Reinvere

Anreise am Karfreitag mit Baltic Air von Zürich nach Riga, der Hauptstadt Lettlands. Nach dem zweieinhalbstündigen Flug und einer Übernachtung nahe dem Flughafen geht es mit dem Mietwagen einige Kilometer auf der neuen Autobahn südöstlich in Richtung Daugavpils, der zweitgrößten Stadt Lettlands. Es ist entgegen unserer Erwartungen sommerlich warm, der Himmel wolkenlos. Das Navigationssystem lotst uns zu einem kleinen Grenzübergang, der durch nichts markiert zu sein scheint. Schengen-Raum auch hier: keine Uniformierten, keine Kontrolle.

Über teils sehr schmale und kurvige Landstraßen fahren wir weiter durch eine sanft hügelige Landschaft in östliche Richtung, vorbei an Fichten- und Birkenwäldern, kleinen Seen und Moorgebieten, verstreut liegenden Gehöften, kleinen Dörfern mit skandinavisch wirkenden Holzhäusern. Uns fallen die vielen Störche auf, die ihre Nester auf hohe Masten und Dächer bauen und auf den feuchten Wiesen nach Nahrung suchen.

Erwartet werden wir in Zarasai, einer kleinen litauischen Stadt nahe der Grenze zu Lettland, rund 7.700 Einwohnrinnen und Einwohner, kleiner historischer Ortskern. Die Hauptstraße wird täglich von vielen schweren LKWs befahren, die auf dem Weg von oder nach Vilnius bzw. dem nahe gelegenen Daugavpils sind. Die Ostertage verbringen wir bei einer litauischen Familie, mit der die Familie meiner Frau vor rund 20 Jahren Kontakt aufgenommen hatte.

Viel hat sich getan in der Stadt seit unserem letzten Aufenthalt. Mehrstöckige Wohnhäuser wurden hochgezogen, die moderne Architektur hebt sich deutlich ab von den Plattenbauten der Vergangenheit. Straßen, Wege und Bürgersteige in den Wohnbezirken wirken neu und gepflegt. Es gibt inzwischen einen Supermarkt und ein elegantes Restaurant. Ein großer See im Süden und eine nördlich gelegene, idyllische Parkanlage mit mehreren kleineren Seen säumen die bebaute Fläche. Ein perfektes Ressort für Individualurlauber, die vor allem Ruhe suchen.

Die befreundete litauische Familie, Ž. und J. mit ihren Töchtern F. und M., bereitet für uns in ihrem großen Garten am Ostersamstag eine große Tafel mit litauischen Speisen. Es gibt die traditionellen Plini, hauchdünne, mit leicht gesüßtem Frischkäse oder mit Wurst gefüllte Pfannkuchen, einen pikanten Heringssalat, gefüllten Hecht, eine üppige Fleischterrine, Wein und reichlich Svyturis-Bier. Zuvor aber werden Ostereier auf traditionelle Art gefärbt und in Weidenkörbchen platziert.

Die Verständigung funktioniert meist über Englisch, das die Töchter am besten beherrschen, versetzt mit ein paar Brocken Deutsch, hin und wieder auch mit den wenigen litauischen Worten, die wir uns anzueignen vermochten. Wir versuchen es immer wieder, geben einen Satz vor, Ž. oder ihre Töchter übersetzen ins Litauische, wir sprechen nach. „Ich liebe dich!“ – „Aš tave myliu!“; „Ich weiß es nicht!“ – „Aš to nežinau!“.

Ž. arbeitet als Krankenschwester in der nahe gelegenen, größeren Stadt Utena, J. ist Vorarbeiter in einer für die Region typischen holzverarbeitenden Fabrik. Dort werden im Schichtbetrieb Möbelkomponenten für IKEA herstellt.

J. ist russischer Abstammung, ein herzlicher und hilfsbereiter Mann, der fast jungenhaft wirkt. Es heißt, dass die Schwiegereltern anfangs gegen die Verbindung ihrer Tochter mit ihm gewesen seien. Ž., genauso agil und umtriebig wie ihr Mann, erzählt und zeigt Bilder von ihrem gemeinsamen Urlaub in Ägypten, bei der sie tauchen lernte. In wenigen Tagen möchte sie erneut dort hinreisen, diesmal ohne ihn.

F., eine stille junge Frau, hat wie ihre Mutter eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht, hielt aber, wie sie uns anfangs erzählt, dem Stress in der Klinik nicht stand und wechselte in ein medizinisches Labor nach Vilnius. M. steht kurz vor dem Abitur. Die musikalisch Begabte singt in einer Band, hatte schon Auftritte in Vilnius und komponiert Lieder zu Gedichten litauischer Lyriker. Wie es für sie nach dem Abitur weitergeht, ist noch offen.

J. hat in viel Eigenarbeit und handwerklichem Geschick das einfach gebaute Holzhaus am Stadtrand modernisiert. Ein Bad und Sanitäranlagen wurden eingebaut, im Garten errichtete er eine Hütte mit Sauna. Seine Mutter lebt mit im Haus, möchte aber an unserer Runde nicht teilnehmen, sie bleibt unsichtbar für uns. Gemeinsam mit Ž. kümmert er sich um den großen Garten, in dem neben zahlreichen Blumen auch viel Gemüse angebaut wird.

Am Ostersonntag fahren wir mit den litauischen Gastgebern nach Baltriškės, einem kleinen Dorf nahe Zarasai am Nordufer des Vepris-Sees, und besuchen dort die Ostermesse. Die 1920 erbaute, hölzerne und schlicht gestaltete St.-Kasimir-Kirche ist überfüllt, Menschen aus der gesamten Region haben hergefunden. Die Stimmung vor, während und nach der Messe ist heiter und gelöst, sie wird geleitet von Brüdern eines Klosters der Tiberias-Gemeinschaft, die 2001 von Mönchen aus Belgien gegründet wurde. Eine Gruppe Jugendlicher und junger Erwachsener begleitet die Zeremonie mit folkloristischen Liedern. Gegen Ende der Messe treten F. und M. zusammen mit anderen Besucherinnen und Besucher nach vorne. Sie präsentieren die mitgebrachten Weidenkörbe mit den Ostereiern, die vom Pfarrer gesegnet und mit Weihwasser besprengt werden.

Die Messe endet in lockerer Atmosphäre. Man steht zusammen mit den Tiberias-Brüdern in kleinen Gruppen vor der Kirche, plauscht, schüttelt Hände und wünscht sich frohe Ostern. In der Kirche wurden einige Stuhlreihen zur Seite gestellt. Die Folklore-Gruppe hat sich neu aufgestellt, einige Menschen beginnen zu tanzen.

Der Katholizismus hat eine bedeutende historische und kulturelle Rolle in Litauen gespielt und prägt bis heute, ähnlich wie in Polen, die litauische Identität. Bereits im 14. Jahrhundert wurde er offiziell als Staatsreligion anerkannt und hat seitdem einen starken Einfluss auf die kulturelle und gesellschaftliche Entwicklung des Landes ausgeübt. Seine kulturelle Bedeutung ist hierbei eng mit der Bewahrung der litauischen Sprache und Kultur während der Zeiten politischer Unterdrückung verbunden. Besonders während der sowjetischen Besatzungszeit (1944 bis 1990) spielte die katholische Kirche eine entscheidende Rolle im Widerstand gegen sowjet-russische Okkupation. Viele Priester und Gläubige wurden, gewollt oder ungewollt, zu Trägern des Widerstands gegen die atheistisch geprägte kommunistische Ideologie. Auch heute prägt der Katholizismus das religiöse Leben der Mehrheit der litauischen Bevölkerung.

Mit Ž. und J. besuchen wir nach der Ostermesse das Familiengrab auf dem großen Friedhof in Zarasai, beschattet von hochgewachsenen Bäumen. Ein großer Teil des Friedhofs wird von den rund 400 Gräbern deutscher Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg eingenommen. In Reihe stehen kleine, moosbewachsene Beton-Kreuze mit oft zur Unleserlichkeit verwitterten Namen. Die Anlage wurde vom Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge 2001 instandgesetzt und seither regelmäßig gepflegt.

In der Region Zarasai fanden Kämpfe zwischen Verbänden des Deutschen und des Russischen Reiches statt. Während der Ostfront-Offensiven rückten deutsche Truppen weit in das heutige Litauen vor, insbesondere im Jahr 1915 im Rahmen der „Gorlice-Tarnów-Offensive“. Hierbei fanden auch in Nordostlitauen Gefechte statt. Zarasai lag strategisch nahe an der damaligen Frontlinie zwischen deutschen und russischen Truppen.

Das Deutsche Reich verfolgte im Ersten Weltkrieg das Ziel, das Baltikum zu erobern und dauerhaft zu kontrollieren. Zum einen sollten die baltischen Länder Litauen, Lettland und Estland als „Pufferzone“ gegenüber dem Russischen reich dienen, zum anderen war das Ziel auch Teil einer größeren expansionistischen Strategie, die wirtschaftliche, militärische und ideologische Interessen verband. Schon im Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg wurden auf deutscher Seite „Lebensraum“-Konzepte entwickelt, wie sie dann später durch die Nationalsozialisten vorangetrieben wurden.

Etwas weiter unterhalb befindet sich eine eingehegte, kleinere Gräberanlage mit gefallenen Litauern und einem schlichten steinernen Mahnmal. Die Gräber sind mit schmalen Bändern in den Farben der litauischen Trikolore Gelb-Grün-Rot geschmückt. Litauische Soldaten waren in die Kämpfe zwischen dem russischen und deutschen Reich involviert, auf beiden Seiten.

Im Familiengrab liegen die Urgroßeltern meiner Frau. Die Urne der Großmutter, die gegen Ende des Zweiten Weltkriegs mit ihren Kindern in den Westen floh, wurde Anfang der 2000er Jahre dort beigesetzt. Ž. und J., mit denen man dank der Hilfe einer litauischen Studentin in Konstanz in Kontakt kam, halfen damals, die Formalitäten am Ort zu erledigen. Sie übernahmen danach auch die Grabpflege.

Im Familiengrab hat auch Juse, die Schwester der Großmutter, ihre letzte Ruhestätte. Sie war bei Kriegsende in Zarasai geblieben. Da sie in jüdischen Haushalten gearbeitet hatte und Jiddisch verstand, wurde sie von den deutschen Besatzern als Dolmetscherin eingesetzt, ein Grund für die Sowjets, die unverheiratete Juse nach dem Sieg über die Nazis und der Wiederbesetzung Litauens jahrelang in den Gulag zu verschleppen. Sie starb nach ihrer Rückkehr in großer Armut, ohne familiäres Umfeld und ohne ihre Schwester wiedergesehen zu haben.

In der Stadt gebe es, so sagt man uns, eine Gedenktafel für die 2.560 überwiegend Jüdinnen und Juden, die am 26. August 1941 in Zarasai zusammengetrieben, anschließend zu dem etwa 15 Kilometer entfernten Waldstück Krakyne verbracht und dort erschossen wurden.

Der für diesen Massenmord verantwortliche SS-Standartenführer Karl Jäger, ein aus dem Breisgau stammender gelernter Instrumentenbauer, hatte penibel Buch darüber geführt und die exakten Zahlen („767 Juden, 1113 Jüdinnen, 1 lit. Kom., 678 Judenkinder, 1. russ. Kommunistin“), neben denen vieler anderen Mord-Aktionen an insgesamt 54 Orten in Litauen, im heute so genannten „Jäger-Bericht“ dokumentiert. Dieser für Karl Jägers vorgesetzte Stellen als Nachweis der Gründlichkeit bei der „Lösung der Judenfrage“ erstellte Bericht gilt heute als eines der wichtigsten schriftlichen Zeugnisse über den Holocaust.

Jäger leitete das so genannte „Einsatzkommando 3“ (EK 3), eine Untergliederung der „Einsatzgruppe A“ (EGr A), die unter dem Befehl von SS-Brigadeführer Walter Stahlecker stand. Das Hauptquartier der EGr A befand sich in Vilnius.

Einsatzgruppen der NS-Sicherheitspolizei (SiPo) und des Sicherheitsdienstes der SS (SD) waren ideologisch geschulte und teils mobile, teils stationäre „Sondereinheiten“, die der „Reichsführer SS“ Heinrich Himmler im Auftrag Adolf Hitlers für Massenmorde beim Überfall auf Polen 1939, im Balkanfeldzug 1941 und vor allem im Krieg gegen die Sowjetunion in den Jahren von 1941 bis 1945 aufstellen und einsetzen ließ. Die Einsatzgruppen dienten der Umsetzung der nationalsozialistischen Rassenideologie und Völkermordpolitik. Sie operierten im so bezeichneten „rückwärtigen Heeresgebiet“ und umfassten insgesamt jeweils bis zu 3000 Mann.

Jäger stellt in seinem Bericht stolz heraus, „das Ziel, das Judenproblem für Litauen zu lösen“, sei vom EK 3 erreicht worden, und erläutert weiter:

Das Ziel, Litauen judenfrei zu machen, konnte nur erreicht werden durch die Aufstellung eines Rollkommandos mit ausgesuchten Männern unter der Führung des SS-Obersturmbannführers Hamann, der (…) es verstand, die Zusammenarbeit mit den litauischen Partisanen und den zuständigen zivilen Stellen zu gewährleisten“. (Jäger-Bericht, Blatt 7)

Somit entsprach die Vorgehensweise ganz dem Ziel der deutschen Besatzungspolitik. Laut Himmlers Einsatzbefehl Nr. 1 sollten nationalistisch eingestellte, nichtrussische Bevölkerungsgruppen und einheimische Helfer, auch solche, die als Partisanen gegen die Russen gekämpft hatten, als Unterstützer von Einsatzgruppen aktiviert werden. Dabei rechnete man mit der latent vorhandenen antisemitischen Einstellung weiter Teile der Bevölkerung.

Die kleine, im großen See gelegene Insel, auf der man die Menschen zunächst zusammengetrieben und ihnen etwas von Arbeitseinsatz vorgegaukelt hatte, ist heute ein beliebtes Freizeit-Ressort. An Ort und Stelle erinnert nichts an das Massaker von damals.

Auf der Weiterfahrt nach Vilnius machen wir kurz Station in Ignalina. Die Stadt mit rund 6.100 Einwohnerinnen und Einwohnern ist Namensgeberin des in einigen Kilometern entfernt liegenden Atomkraftwerkes, eines Doppelmeilers der Tschernobyl-Klasse. Dieses nahe der Grenze zu Weißrussland gelegene Kraftwerk „Ignalina“, wurde 1977 bis 1978 unter der Parole „Lenin, die Macht der Partei und die Kraft des Volkes sichern den Sieg des Kommunismus“ gebaut. Auftraggeber war das Moskauer „Ministerium für Mittelschweren Maschinenbau“, bekannt für seine Nähe zum Militär.

„Ignalina“ sorgte zu Spitzenzeiten für rund 90 Prozent der elektrischen Energie Litauens und sollte den technischen Fortschritt der UdSSR demonstrieren. Im Rahmen der EU-Beitrittsverhandlungen Litauens verlangte die EU-Kommission aus Sicherheitsgründen die Stilllegung des Kernkraftwerks. Diese Stilllegung wurde im Mai 2000 vom litauischen Parlament mitgetragen. Bis 2038 soll das Kernkraftwerk endgültig abgebaut sein.

Für die überwiegend russischstämmigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Kraftwerkes und deren Familien wurde 1975 eine komplette, imposant moderne Stadt vom Reißbrett mitten in einem Waldgebiet erbaut. Heute leben noch rund 20.000 Einwohnerinnen und Einwohnern in der inzwischen in Visaginas umbenannten Stadt. Ursprünglich war sie nach Antanas Sniečkus, dem ehemaligen Vorsitzenden der litauischen Kommunistischen Partei, benannt.

Visaginas ist heute eines der wichtigsten Zentren der russischsprachigen Minderheit in Litauen, die aktuell bei rund 6 % der Gesamtbevölkerung liegt. Im Vergleich mit der Zeit kurz vor der Unabhängigkeit Litauens 1991 hat sich dieser Anteil halbiert. Damit ist der Anteil Russischstämmiger in Litauen deutlich kleiner als in den anderen beiden baltischen Staaten. Etwas höher liegt der Anteil der aus Polen Stammenden.

Viel geändert hat sich seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 und der Niederschlagung der Oppositionsbewegung in Belarus. In größerer Zahl strömten Migranten aus diesen Ländern nach Litauen, außerdem Russinnen und Russen, in der Regel Oppositionelle oder junge Männer, die sich dem Militärdienst entziehen. Geschätzt wird die Gesamtzahl auf aktuell 130.000, was einem Anteil von 4,3 % an der Gesamtbevölkerung entspricht. Das Russische nahm hierdurch als Umgangssprache im Alltag wieder deutlich zu.

In den Jahren nach der Unabhängigkeit galten die Russischstämmigen als relativ gut integriert, Reibungen, wie aus den anderen baltischen Staaten gemeldet, gab es so gut wie nicht. Aufgrund der Ereignisse der letzten Jahre veränderte sich jedoch die Haltung der litauischen Bevölkerung zum Negativen, die Spannungen im Verhältnis zu Russisch Sprechenden, unabhängig, aus welchem Land sie kamen, nahmen deutlich zu.

In dem Café im Städtchen Ignalina, in dem wir kurz Station machen, bevor es nach Vilnius weitergeht, ist von alledem nichts zu spüren. Die Speise- und Getränkekarte ist hier, wie auch an vielen anderen touristischen Plätzen, auf Litauisch und Russisch abgefasst.

Jüri Reinvere, Wir waren die abgesegnete Beute Stalins, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.05.2025, S. 13

Mark Mazower, Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus, Verlag C.H.Beck, München 2009.

Wolfram Wette, Karl Jäger, in: Wolfgang Proske (Hg.), Täter – Helfer – Trittbrettfahrer“ (THT), Band 6, Kugelberg Verlag, Gerstetten 2017.

Ders., Karl Jäger: Mörder der litauischen Juden, Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2011.

Kerstin Holm, Die Apokalypse als Fernsehserie, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 06.12.2022

Foto: Der Park in Zarasai

  • christina Herbert-Fischer

    23.5.2025, 18:52

    Spannender Bericht, die Familie meines Urgroßvaters mütterlicherseits kam aus Riga, der Mädchenname meiner Großmutter war Schalin. Allerdings war der Kontakt zu Zeiten meiner Urgroßeltern zum Rest der Familie bereits abgebrochen. Ich weiß so gut wie nichts darüber, was ich sehr schade finde. Ich bin schon gespannt auf Teil 2 des Reiseberichts, auch wenn es um Litauen geht. Mir ging es als Kind und Jugendliche auch so, dass ich über den Osten nichts wusste, da war eben der Eiserne Vorhang. für meine Eltern war der „Russe“ schlimm und gefährlich und später gab es die DKP und einige Leute in meinem Freundeskreis waren voll drauf abgefahren. Ich dachte zwar immer, dass da im Osten auch Menschen mit Kultur leben, aber die geschulten DKPler gaben keinen echten Aufschluss darüber, die waren mir teils auch suspekt. Nicht menschlich betrachtet, sondern von ihren Ansichten her, die genauso verbohrt waren, wie die unserer Elterngeneration, nur auf andere Weise.

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