
Russlands Krieg gegen Europa
Die russischen Machthaber nennen es euphemistisch „Militärische Spezialoperation“, auf Russisch „специальная военная операция“. Die Ukrainer sprechen von „Russischer Invasion“ oder „Krieg gegen die Ukraine“. Internationale Organisationen wie die UN, die EU und die OSZE benutzen die Begriffe „bewaffnete Aggression Russlands gegen die Ukraine“, „militärischer Angriff“ oder „völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen die Ukraine“. Auch in deutschen Medien wird gerne auf die letztere Definition zurückgegriffen, abwechselnd auch „russischer Angriffskrieg gegen die Ukraine“, weniger präzise „Russland-Ukraine-Krieg“.
Dass die russische Seite so sehr Wert darauf legt, ihre Aggression nicht „Krieg“ zu nennen – und jeden innerhalb ihres Machtbereichs hart bestraft, der es doch tut – , hat offensichtlich Gründe: Man will nach außen und auch nach innen den Anschein erwecken, nicht in direktem Konflikt mit den völkerrechtlichen Bestimmungen zu stehen, wonach gemäß Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta die Gewaltanwendung zwischen Staaten verboten ist, es sei denn, die militärischen Aktionen dienen der Selbstverteidigung oder erfolgen mit Mandat des UN-Sicherheitsrats, was im Falle der Ukraine definitiv nicht zutrifft.
Eine offizielle Kriegserklärung, wie es die Haager Landkriegsordnung von 1907 vorsieht, ist im Übrigen nicht notwendig, um einer militärischen Auseinandersetzung zwischen zwei souveränen Staaten die Qualität eines Krieges beizumessen. Viele Kriege des 20. Jahrhunderts geschahen ohne eine solche, so die durch die USA geführten Kriege in Korea und Vietnam sowie bei der Invasion des Irak in 2003.
Russland sieht sich durch ein Bündel von mit einander abgestimmten Gründen dazu berechtigt, sein Nachbarland quasi als Akt der Selbstverteidigung zu vernichten, seine Einwohnerinnen und Einwohner zu töten und seine Kinder zu entführen, seine Infrastruktur zu zerstören, Teile dieses Landes zu besetzen und quasi zu annektieren. Immer wieder beruft sich die russische Propaganda auf
- Kampf gegen den „Faschismus“ oder „Nazismus“ bzw. die „Entnazifizierung“ der Ukraine
- Schutz der russischsprachigen Bevölkerung, vor allem im Osten der Ukraine bzw. Schutz vor einem „Völkermord“ im Donbass
- Bedrohung durch die NATO
- Nichtanerkennung der Eigenstaatlichkeit der Ukraine bzw. Definition der Ukraine als Teilgebiet Russlands
Alle diese Gründe sind in der Sache mehrfach widerlegt worden, was an dieser Stelle nicht wiederholt zu werden braucht. Nur notorische Sympathisanten des Putin-Lagers, in der westlichen Welt vor allem im extrem rechten und extrem linken Lager zu Hause, finden immer wieder wohlfeile Argumente, wonach an diesem Szenario doch etwas dran sein könnte. Damit versuchen sie vor allem zu erreichen, dass eine weitere Unterstützung der Ukraine mit Waffen zu unterbleiben habe und der Weg für „Verhandlungen mit Putin“ eingeschlagen werden müsse. Manche unterstellen dem „Westen“ geradewegs, er sei der eigentlich Schuldige an diesem „Konflikt“ und die russische Seite habe gar keine andere Wahl gehabt als anzugreifen, so vor Kurzem der US-Politologe John Mearsheimer, ein so genannter „politischer Realist“, in einem Interview mit der Neuen Züricher Zeitung.
In der Fokussierung auf die Ukraine und, bei Teilen des Publikums, auch auf das, was diese eventuell in den Jahren vor der russischen Invasion 2022 bzw. der Annektierung der Krim alles falsch gemacht haben könnte, kommt aus dem Blick, dass die russische Aggression längst auf das westliche Europa und seine liberalen Gesellschaften zielt. In diesem Punkt gibt es eine bemerkenswerte Einigkeit mit dem aktuellen Regime in Washington und die, gelegentlich schwankenden, aber grundsätzlich erstaunlich hohen Sympathiewerte des russischen beim US-amerikanischen Präsidenten.
Russland führt Krieg gegen dieses osteuropäisch erweiterte westliche Europa, (noch) nicht mit militärischen Waffen (Bomben, Drohnen, Raketen, Artilleriegeschosse) und militärischem Personal auf europäischem Boden, aber ansonsten mit allen verfügbaren Mitteln des hybriden Krieges:
- Cyber- und andere Attacken auf zivile Infrastruktur
- Desinformation durch Medien wie „Russia Today“ oder in den „Sozialen Medien“
- Spionage
- verdeckte Operationen und Sabotage (z. B. Brandbomben in Frachtflugzeugen)
- gezielte Umlenkung von Migrantenströmen an den unmittelbaren Grenzen zur EU
- Unterstützung von demokratiefeindlichen Gruppen und Organisationen.
Russland, genauer: die Russländische Föderation und die in ihr herrschende Klasse, sieht sich nicht nur durch den Wandel in der Ukraine weg vom russlandfreundlichen Kurs eines ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch (2010 – 2014) bedroht, sondern auch durch die, letztlich vom treuen Freund Lukaschenko brutal niedergeschlagene, Demokratiebewegung in Belarus und ganz generell durch alle demokratisch-liberalen Gesellschaftsformen entlang seiner Außengrenze und darüber hinaus in Europa.
Das strategische Ziel Russlands ist – hierin mögen die Sympathien des US-Präsidenten Trump begründet sein – eine Zerstörung, zumindest ein Auseinanderdividieren der EU und eine Deformation der gesellschaftlichen Systeme der westeuropäischen Länder nach ungarischem oder slowakischem Muster. Ein Muster, das inzwischen in der rechten bis rechtsextremen Parteienlandschaft Westeuropas überdeutlich erkennbar wurde.
Der 2022 begonnene Krieg gegen die Ukraine ist längst zu einem Krieg gegen Europa und seine etablierten Rechtsprinzipen und politischem Entscheidungsverfahren geworden. Die Bemühungen um eine Lösung durch „Verhandlungen“ müssen daher, wenn sie lediglich bei der Ukraine ansetzen und nur einen wie auch immer gearteten Waffenstillstand meinen, zwangsläufig ins Leere laufen. Eher muss davon ausgegangen werden, dass solche „Verhandlungen“ nur dazu dienen, der russischen Seite einen Zeitvorteil zu verschaffen. Die neue schwarz-rote Bundesregierung scheint zumindest das erkannt zu haben.
„Ich hätte dasselbe getan wie Putin. Ich hätte die Ukraine sogar noch früher überfallen“ – Interview mit John Mearsheimer, NZZ 06.05.2025