
Implosion
Im Jahr 2000 erschien die „Geschichte eines Deutschen“ von Sebastian Haffner. Der 1907 in Berlin geborene gelernte Jurist, deutsch-britische Journalist und Publizist Haffner alias Raimund Pretzel war 1938 nach Großbritannien emigriert, da er klar erkannte, welchen Weg Deutschland unter nationalsozialistischer Führung einschlagen wird.
Bekannt geworden durch seine historischen Studien zur deutschen Geschichte und seine pointierten Beiträge zum aktuellen Zeitgeschehen, unter anderem als Kolumnist für den „Stern“ und für „konkret“, erzählt die „Geschichte eines Deutschen“ von seinen ersten drei Lebensjahrzehnten im Deutschland vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, den Jahren der Weimarer Republik und der ersten Zeit unter der Nazi-Diktatur. Das Buch wurde postum veröffentlicht und erzielte eine hohe Auflage.
Zu den Episoden, die mich in diesem – wie stets bei Haffner – klar und pointiert geschrieben Buch am meisten beeindruckten, gehört die Beschreibung, wie die Machtergreifung durch die Nazis im Jahr 1933 von Zeitgenossen konkret erlebt wurde. Haffner/Pretzel arbeitete zu dieser Zeit als 25-jähriger Referendar am Berliner Kammergericht.
Im Folgenden – leicht verkürzt – die betreffende Passage:
„Ich ging aufs Kammergericht. Es stand grau, kühl und gelassen wie immer, vornehm abgerückt von der Straße (…) Durch seine weiten Gänge und Hallen huschten wie immer eilig und fledermausartig in ihren wehenden schwarzen Amtsroben die Anwälte, Aktentaschen unter dem Arm, mit gesammelten und korrekten Gesichtern, Die jüdischen Anwälte plädierten ihre Sachen, als wäre dies ein Tag wie alle Tage.
Ich ging in die Bibliothek, als wäre dies ein Tag wie alle Tage (…) und richtete mich an einem langen Arbeitstische mit einem Aktenstück ein, über das ich ein Gutachten zu mache hatte. (…) Vorsichtige, genaue, stumme Arbeit. Jeder im Raum vertieft und isoliert in die seine. (…) Es herrschte zugleich die äußerste Stille, und, in dieser Stille, die äußerste Spannung vielfältiger Tätigkeit. (…) Man war wie in einer Festung, nein, wie in einer Retorte. Keine Luft von draußen kam herein. Hier gab es keine Revolution.
– Was war das erste auffällige Geräusch? Ein Türenschlagen? Irgendein schriller unartikulierter Ruf, ein Kommando? Auf einmal saß alles aufgeschreckt da, mit dem Ausdruck gespannten Horchens. Immer noch herrschte vollkommene Stille, aber ihr Wesen war verändert: keine Arbeitsstille mehr, vielmehr die Stille des Schrecks und der Spannung. Draußen in den Gängen hörte man Getrappel, vielschrittiges grobes Laufen die Treppen herauf, dann fernes unentwirrbares Getöse, Rufen,Türenschlagen. (…) Draußen der Lärm wurde stärker. Einer sagte in die vorhaltende Stille hinein: „SA“. Darauf sagte ein anderer, mit nicht besonders erhobener Stimme: „Die schmeißen die Juden raus“, und zwei oder drei Leute lachten dazu. (…)
Allmählich wurde die Unruhe sichtbar – zuerst war sie nur fühlbar. Die Arbeitenden standen auf, versuchten irgendetwas zueinander zu sagen und gingen langsam und sinnlos hin und her. Ein offenbar jüdischer Herr schlug schweigend seine Bücher zu, stellte sie sorgfältig in die Regale zurück, verstaute seine Akten und ging hinaus. Kurz darauf erschien jemand im Eingang (…) und rief laut (…): „Die SA ist im Haus. Die jüdischen Herren tun besser, für heute das Haus zu verlassen.“ Zugleich hörte man von draußen, wie zur Illustration, rufen: „Juden raus!“. Eine Stimme antwortete: „Sind schon raus“ (…).
(…)
Die Sightseer erzählten später, was sich im Gebäude abgespielt hatte. Keine Greuelberichte, o durchaus nicht. Es war alles überaus glatt gegangen. Die Sitzungen waren offenbar größtenteils aufgehoben worden. Die Richter hatten ihre Togen ausgezogen und waren bescheiden und zivil aus dem Haus gegangen, die Treppe hinunter flankiert von aufgestellten SA-Leuten. (…)
Inzwischen erschienen die Eindringlinge auch bei uns. Die Tür wurde aufgerissen, braune Uniformen quollen herein, und einer, offenbar der Anführer, rief mit schallender, strammer Ausruferstimme: „Nichtarier haben sofort das Lokal zu verlassen!“ (…) Wieder antwortete einer, offenbar derselbe wie vorhin: „Sind schon raus.“ Unsere Wachtmeister standen in einer Haltung da, als wollten sie die Hand an die Mütze legen. (…)
(…)
– Als ich das Kammergericht verließ, stand es grau, kühl und gelassen da wie immer, vornehm abgerückt von der Straße (…) Man sah ihm keineswegs an, daß es soeben als Institution zusammengebrochen war. (…)“
Für mich gibt es kaum ein treffenderes Bild für den Untergang einer zentralen und wichtigen staatlichen Institution, stellvertretend für den Niedergang einer Demokratie. Eine Implosion in kürzester Zeit, schnell und widerstandlos.
In Kalifornien lässt Donald Trump, ermächtig durch niemanden anderen als sich selbst und ermutigt durch sein hasardierendes Umfeld, unter Missachtung der verfassungsmäßigen Ordnung der USA und nicht aufgehalten von deren demokratischen Instanzen des Landes, das Militär und die paramilitärische National Guard aufmarschieren, um den Widerstand der Bevölkerung gegen seine maßlose und aggressive Politik niederzuschlagen.
Auf den Straßen von Los Angeles geht es bei weitem nicht so geräuschlos zu wie in den Räumen des Berliner Kammergerichts. Und doch müssen wir tief bestürzt erkennen, dass die US-amerikanischen Bürgerinnen und Bürger, allen voran die Demokratische Partei, kein Mittel und kein Rezept in der Hand zu haben scheinen, die Implosion vieler staatlicher Institutionen, die Disruption der Kultur, der Wissenschaft und weiter Bereiche der Öffentlichkeit, letztlich die Umwandlung der USA in eine Diktatur aufzuhalten.
Kann der Widerstand in Kalifornien aber doch – wie Ernst Köhler in seinem jüngsten Beitrag in unserem Blog andeutet – etwas in Bewegung setzen? Wie er war ich nie dort, kenne den Spirit diese wirtschaftsmächtigsten und für seine liberale Lebensweise bekannten US-Bundesstaates nur aus den Medien und vom Hörensagen.
Ich hoffe es!
Sebastian Haffner, Geschichte eine Deutschen – Die Erinnerungen 1914 – 1933, Verlag DVA, Stuttgart/München 2000 bzw. ergänzt 2002, neu als Paperback 2014, ISBN 978-3-570-55213-1
Abbildung: Das Berliner Kammergericht (Detail)