Nur noch ein Staat unter anderen?

Ernst Köhler

1.

Die deutsche Außenpolitik gegenüber Israel ist ein großes, scharf kontroverses Thema. Hier eine persönliche Überlegung dazu. Ich habe mich nämlich gefragt, ob Israel mittlerweile für mich – zum ersten Mal in meinem Leben – ein Staat ohne Bezug zum Holocaust ist. Nur noch von den Verbrechen her zu sehen und zu beurteilen, die es im Gazastreifen begeht, und von der ethnischen Säuberung, die es in Gaza und im Westjordanland vorantreibt? In meiner privaten Wahrnehmung, aus der Ferne und ohne Expertise, also ein Staat ohne Bezug zur Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Juden durch die Deutschen. Wie ich sie dann mit der Zeit wie die meisten der nichtjüdischen Deutschen zugelassen habe. Erst Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges allerdings, unsere unerhörte Verspätung im Denken ist ja allgemein bekannt. Es war dann schließlich doch eine Erinnerung – in ihrer ganzen, öffentlich wenig thematisierten Begrenztheit, Willkür, Verkrüppelung. Von der mit ihr gern verbundenen Selbstbeweihräucherung ganz zu schweigen. (Vgl. dazu jetzt: Dominik Kawa, Vernichtungskrieg im Irrealis, in: FAZ, 03.07.2025) Doch wie fragmentarisch, borniert, indifferent, selbstzufrieden auch immer, ohne dieses Stückwerk von Erinnerung wären wir nie eine Demokratie geworden. Adenauer, der faktisch mit der offiziellen westdeutschen Unterstützung Israels angefangen hat, hatte keine. (Vgl. Daniel Marwecki, Absolution? Israel und die deutsche Staatsräson, 2024, Wallstein Verlag) Eine Demokratie sind wir dann erst 20, 30 Jahre nach seiner Zeit als Kanzler geworden. Seine Westorientierung war kein Schritt auf diesem Weg.

Ich hatte auch schon angefangen, im Freundeskreis über meinen persönlichen Tabubruch im Blick Israel zu sprechen. Er kam mir wie die Quintessenz meiner Ernüchterung und Distanzierung vor. Sagen, was man denkt. Bis mir auf einmal klar geworden ist, dass ich gar nicht wirklich so denke. Nach wie vor nicht. Trotz allem nicht, was wir im Nahen Osten an Verletzungen der Menschenrechte sehen. Dass ich also mein Bekenntnis, Israel sei für mich inzwischen nichts als ein Nationalstaat unter Nationalstaaten, nicht aufrechterhalten kann. Und zwar nicht mittels Selbstreflexion, die gern immer weiter bohrt, per innerem Dialog, der, wie wir wissen, die Person ausmacht, sondern mit Hilfe der Lektüre eines fremden Textes. Durch einen Anstoß von außen. Den man anscheinend gelegentlich auch für Entscheidungen benötigt, die einem für den eigenen moralischen Werdegang als existenziell und unabdingbar erscheinen.

Es handelt sich um die Auseinandersetzung Natan Sznaiders mit dem neuen Buch des indischen Denkers Pankaj Mishra: „Die Welt nach Gaza“ (2025, Fischer Verlag). Die Besprechung von Sznaider findet sich als Gratistext in der Stuttgarter Zeitschrift Merkur, Ausgabe vom Juni 2025. Vorweg sollte ich vielleicht anmerken, dass ich etwas verquer vorgegangen bin: zuerst die Kritik, dann das kritisierte Buch, dann wieder die Kritik. Denn mit dem Werk von Pankaj Mishra wollte ich zuerst nichts zu tun haben. Ich vermutete da wieder nur eine dreiste, unverschämt apodiktische „postkoloniale“ Streitschrift, ein weiteres Dokument der aus meiner Sicht international um sich greifenden kulturellen und moralischen Verwahrlosung. Vorgenommen habe ich mir das Buch schließlich dann doch – in seinem Teil 1: „Die Nachleben der Shoah“ und Teil 2: „Erinnerung an die Erinnerung an die Shoah“. Aber eben nur, weil Sznaider es bei allen seinen grundsätzlichen Einwänden ernst nimmt und eingehend würdigt. Jemand wie Natan Sznaider, der – wie mir wieder einfiel – schon früh und damals schon frei von unserer speziell deutschen Befangenheit in der Frage der Vergleichbarkeit der Shoah mit anderen Fällen von Völkermord – über die „Universalisierung“ des Holocausts nachgedacht hatte. (Vgl. Daniel Levy/ Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter: Der Holocaust, Frankfurt/Main 2007)

2.

Aber hier die Passage in der Kritik von Sznaider, die mich wieder zur Besinnung gebracht hat. Oder weniger pathetisch: der dort entfaltete Gedanke, auf den ich selbst nie gekommen wäre; den ich aber, als ich ihn hier auf einmal zu lesen bekam, sogleich als mein tiefstes, allerschöntes geistiges Eigentum empfand:

„Mishra gibt den allwissenden Intellektuellen mit privilegiertem Zugang zur Wahrheit und glaubt auf Grund dessen, für die Unterdrückten sprechen zu können, ohne sie überhaupt zu fragen. Er liest jüdische Denker und Denkerinnen wie Hannah Ahrendt, Primo Levi, Sigmund Freud, Jean Améry, Franz Kafka, Marcel Proust, Joseph Roth. Isaak Babel, Ossip Mandelstam, Zygmunt Bauman und andere. Es ist eine gewaltige jüdische Genealogie, die er auflistet, und er hat sie bestimmt gewinnbringend für sich und seine Leser und Leserinnen angeeignet. Es ist wichtig für ihn, seine Darlegungen mit Argumenten von jüdischen Denkern und Denkerinnen zu unterfüttern. Damit versucht er auch, dem Vorwurf des Antisemitismus zu entkommen. Und das ist auch richtig, denn dieser Vorwurf ist in der Tat viel zu oft instrumentalisiert worden und lenkt von den wichtigen politischen Fragen ab. Es ist nicht genug, sich einem Argument zu verweigern, weil es vielleicht antisemitische Vorurteile bedient.

Es ist beeindruckend, wie sich Mishra auf jüdische Intellektuelle beruft, aber er liest ihre Geschichten nicht als partikular erfahrene Gewaltgeschichten. Wie könnte er auch? Er versteht die persönlichen, familiären und kollektiven Geschichten von Juden und Jüdinnen nicht wirklich, aber er eignet sie sich an. Das ist die Stärke und die Schwäche des Buches zugleich, denn Mishra schafft es, diese partikularen Erfahrungen zu verallgemeinern. Es sind genau diese Geschichten, die am Ende unsere politischen Leidenschaften prägen. Und er vermittelt seinen Lesern, dass diese seine Leidenschaften in Indien geformt wurden. Ich verstehe selbstverständlich die Versuchung, universell, europäisch, progressiv, inkludierend zu denken und zu fühlen. Es ist aber auch gleichzeitig eine Versuchung, die in ihrem eigenen Fortschrittsgedanken befangen bleibt.

Gleichzeitig verstehe ich die Versuchung, die Welt partikular und jüdisch zu betrachten. Auch diese Versuchung ist mir nicht fremd. Ihm scheint sie aber fremd zu sein. So liest er Jean Amérys Zeugnis über seine erlittene Folter unter den Nazis als Metapher für Folter überhaupt und insbesondere für die von Israelis ausgeführte Folter. All das ist richtig, aber er übersieht dabei vieles. Améry war Jude und auch Philosoph. Er war Flüchtling, Widerstandskämpfer. Er wurde von den Nazis inhaftiert, gefoltert und nach Auschwitz deportiert. 1978 nahm er sich in Salzburg das Leben. Améry schrieb über Freiheit und Würde und über den gewaltvollen Kampf, um diese zu erlangen. Damit kann und will sich Mishra identifizieren. Améry schrieb auch über das Ghetto und die Vernichtungslager, indem er die Situation der zum Tode verurteilten Juden und der Kolonisierten differenziert betrachtet. Das Ghetto war für ihn der Warteraum des Todes, denn nur der Tod war sicher. Er schreibt von der totalen Einsamkeit des Ghettojuden, die anders war als die Einsamkeit er unterdrückten Kolonisierten. Es ging allein um den Tod und nicht um Ausbeutung. Améry verweigert sich jeglichem Vergleich und pocht auf die Singularität des Holocaust. Und Améry klagt am Ende seines Lebens den linken Antisemitismus an. Dieser Améry passt nicht in Mishras Deutung.“

So wenig wie auch Hannah Arendt, die auch für jeden, der sie gelesen hat, „nicht nur die Universalistin“ war, „die Mishra erträumt ins Feld führt“. „Arendt spricht aus ihrer eigenen jüdischen Erfahrung von Flucht, Vertreibung und Vernichtung.“

3.

Das ist aus meiner Sicht der Kerngedanke Natan Sznaiders gegen Pankaj Mishra und sein Plädoyer für einen universalistischen Humanismus, der sich hier als abstrakt, als abgehoben, als entleert zurückgewiesen sieht: als ein sich letztlich autoritär über die realen Menschen, hier die Juden, und ihre Geschichte erhebender Moralanspruch. Der kosmopolitische, sich ausschließlich an der globalen Geltung der Menschenrechte orientierende Diskurs ist danach also nicht die vornehmste, die legitimste aller moralischen Denkungsarten, sondern im Gegenteil eine verarmte, verflachte, schematische, ideologisierte Version. Das ist erst einmal zu verarbeiten, und mir genügt es auch bereits völlig, um meine vorschnelle und tendenziöse politische Abwendung von Israel zurückzunehmen. Aber Natan Sznaider spricht in dieser Auseinandersetzung mit Pankaj Mishra nicht nur ein jüdischer Geschichtsdenker, der sich vor Jean Améry und Hannah Arendt und die anderen schreibenden Überlebenden des Holocaust stellt. Er spricht hier auch als Bürger des Staates Israel. Als ein Staatsbürger, der nichts unterschlägt oder verharmlost, was dieser sein Staat aus sich macht – und das nicht erst seit dem 7. Oktober 2023. Der sich andererseits aber auch nicht vorstellen kann, aus seiner politischen Existenz herausspringen, um wieder ein Diasporajude zu werden. (Anders als Arnon Grünberg es jetzt einigermaßen unverfroren durchspielt: „Diasporismus, in: Lettre International, 149, 2025). Aussteigen in ein Dasein ohne die direkte, institutionell gesicherte, demokratische Mitverantwortung für einen eigenen souveränen Staat, sein Selbstverständnis, seine Macht, seine Politik? Der Unterschied zu der Verurteilung (ohne politischen Vorschlag), wie Pankaj Mishra sie in seinem Buch vorträgt, ist nicht der zwischen Wahrheit und Beschönigung, zwischen Bruch und Loyalität, Staatstreue um jeden Preis. Er liegt vielmehr darin, dass diese innerisraelischen Fundamentalkritiker die Suche nach einer gerechten Lösung dieses unabsehbaren Konflikts noch nicht aufgegeben wollen. Der Text von Natan Sznaider ist außerordentlich dicht geschrieben. Moshe Zimmermann, „Niemals Frieden. Israel am Scheideweg“ (2024, Ullstein Verlag) hinzuzunehmen, kann dem deutschen Beobachter sehr helfen.

  • Herbert Lippenberger

    6.7.2025, 20:03

    Vielen Dank, bester Ernst!

    Das von Dir offen beschriebene, gedankliche „Planspiel“ einen Schlussstrich zwischen Holocaust und dem Staat Israel zu ziehen, ist wie von Dir dann eindrücklich gezeigt, nicht möglich!

    Zumal der Holocaust auch seinerseits nur als Höhepunkt eines langen, häufig sehr gewalttätigen Ausgrenzungsprozesses zwischen der christlichen und jüdischen Kultur in ganz Europa gesehen werden kann. Aber der Holocaust in seiner dann industriell-administrativ realisierten Form wurde eben nur in einem deutschen Staat und der mühsam und mit lächerlichen historischen Rückgriffen im wilhelminische Gründungsstaat geschaffenen „deutschen Kultur“ möglich, die nach dem verlorenen ersten Weltkrieg und dem gescheiterten sozialistischen Revolutionsversuch einen manischen Nationalisierungs-Kollaps erlebte, infolge dessen auch die ohnehin brüchige deutsche Zivilgesellschaft auf allen sozialen Ebenen implodierte.

    Gleichfalls ist die Existenz des Staates Israel und die Logik seiner Verteidigung in der generativen Erfahrung des Holocaust begründet. Dass dies keinesfalls die mannigfachen Exzesse entschuldigt, die infolge der gleichfalls historisch einmaligen Übergriffe vom 7.10.2023 ausgelöst worden sind, versteht sich von selbst!
    Aber dies kann uns nicht dazu verleiten, nun einen Schlussstrich zwischen dem Holocaust und der Existenz des zur Zeit wie auch immer agierenden Staates Israel zu setzen.

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