Kindermörder

Andreas Meyer

Kürzlich erschien in diesem blog ein Titel mit dem Titel „Kindersterben in Gaza und wir schauen zu“ (Delf Bucher 16.7.).

Nanu! – Geht das denn schon wieder los, werden die alten, schlimmen Anschuldigungen wieder ausgegraben? Ich kenne den Autor gut genug, um nicht eine Sekunde zu glauben, dass er in diese Ecke gestellt werden dürfte. Die Intention des Artikels muss also eine andere sein:

Er erläutert dem Leser, dass es ihm nicht darum gehe, sich in irgendwelchen Definitionen des Begriffes „Genozid“ zu verfangen, was durchaus nachvollziehbar ist. Eine zentrale Begründung hierfür liefert beispielsweise Shlomo Dubnov, wenn er sagt: „Der Vorwurf des Völkermords ist kein Synonym für Grauen, sondern ein eigenständiger Rechtsbegriff, der von der Politik der Empörung getrennt bleiben muss.“

Doch genau dies scheint mit dem Text von Bucher beabsichtigt zu sein: Die Empörung über das Grauen in Gaza zu wecken, wohl auch hochzuhalten, und so Druck auszuüben auf die Entscheidungsträger in Deutschland, damit diese die Waffenlieferungen nach Israel einstellen.

Kann man machen, das ist natürlich legitim, die Frage ist nur, wie wird es gemacht? Wenn der Subtext hier eine „genozidale Absicht“ der Israelis sieht, sollte die Begründung überzeugend sein. Dass der Vorwurf „Genozid“ großer Vorsicht bedarf, zeigt sich schon daran, dass Raphael Lemkin (ein jüdischer Jurist aus Polen) diesen Begriff sozusagen aus der Not geboren ins Leben rief, da es bis dahin keine Bezeichnung für die Naziverbrechen gab. Zu jener Zeit existierten die Begriffe „holocaust“ oder „shoah“ noch nicht. Und ganz zwangsläufig wird auf diese Weise eine enge Verbindung hergestellt zwischen dem Begriff „Genozid“ und der völligen Auslöschung der Juden und den Nazis.

Es ist nicht ganz ersichtlich, weshalb Bucher seinem Text einen kurzen Abriss zur Gründung Israels voranstellt, mit welchem er suggeriert, es hätte dabei Religion/Christentum eine wesentliche Rolle gespielt. Er spricht von einer „christlich-europäischen Perspektive“. Europäisch war die Perspektive logischerweise, das Christliche muss man sich hinzudenken. „Bibelfest für den Judenstaat“ ist das Kapitel überschrieben, und dies will er vor allem an der Darstellung des damaligen britischen Außenministers Balfour aufzeigen. Balfour wird dem Leser vorgestellt mit der Feststellung: „… besonders pikant ist: Balfour selbst war von der in Britannien verbreiteten Idee des christl. Zionismus geprägt … Die Bibel, dieses uralte Buch, , gab also die Prämissen des politischen Handelns vor.“

Erstaunlich, dass jetzt plötzlich die religiöse Gesinnung von Politikern jener Zeit als Maßstab für ihr politisches Handeln gelten soll. Es ist abwegig, Balfour erhoffte sich vielmehr mit seiner Entscheidung, der „Balfourerklärung“ die Unterstützung jüdischer communities in aller Welt zu bekommen, in einer Zeit, in der der Erste Weltkrieg noch andauerte. Tom Segev, der israelische Historiker, sieht im Handeln Balfours eine gänzlich andere Motivation. „Die Rückführung der Juden in ihre Heimat verkörperte für ihn (Balfour) ein Ideal, ein historisches Projekt, dessen Verwirklichung er gern mit seinem Namen verknüpft sehen wollte.“ Religiöse Grundsätze spielten hier sicher keine Rolle. Dazu kam es immer wieder zu Problemen, da es in der britischen Regierung, in den diplomatischen Zirkeln und auch im Militär Befürworter und Kritiker (Antisemiten) des zionistischen Projekts gab.

Noch einmal zurück zu dem Zitat Buchers, es stammt von dem bereits erwähnten Tom Segev, genauer aus seinem sehr lesenswerten Buch „Es war einmal in Palästina“. Doch Bucher hat die direkt davor stehenden Feststellungen Segevs ausgeblendet. Dort heißt es: „Die Rückführung der Juden in ihre angestammte Heimat verkörperte für ihn (Balfour) ein Ideal, ein historisches Projekt, dessen Verwirklichung er gern mit seinem Namen verknüpft sehen wollte. Außerdem lockte ihn die damit verbundene Herausforderung …“ (S.56f). Segev sieht in Balfour einen ehrgeizigen, etwas selbstverliebten Charakter, der auch einmal eine Rolle spielen möchte auf der Weltbühne. Ein religiös motiviertes Handeln ist da nicht am Horizont. „Bibelfest für den Judenstaat“ musste hier niemand sein.

Zentral ist für Bucher jedoch die Beschreibung der aktuellen Situation in Gaza, die für ihn nur einen Schluss zulässt, nämlich den Stopp deutscher Waffenlieferungen für Israel und eine Abkehr der deutschen Politik, die „von der Staatsraison zur Vernunft kommen“ müsse – was immer das letztlich auch heißen mag.

Im Juli hat Israel mehr als 30 000 Tonnen Hilfsgüter in den Gazastreifen gebracht, 600 LKW-Ladungen waren es vor zwei Wochen. „Hunderte Tonnen an Hilfslieferungen verrotten an der Grenze, weil die Vereinten Nationen und andere Organisationen sie schlicht und einfach nicht abholten“, so Peymann-Engel von der Jüdischen Allgemeinen Zeitung. Wer bis vor kurzem auf diese Zahlen verwies, wurde in eine unliebsame Ecke gestellt. Doch es ist die Hamas, die maßgeblich das Hungerproblem in Gaza zu verantworten hat:

Sie plündert die LKWs, um ihre Kämpfer mit Lebensmitteln zu versorgen. Sie verkauft die Hilfsgüter zu völlig überhöhten Preisen an die eigene Bevölkerung. So lassen sich auch „Gehälter“ für die Terroristen erwirtschaften und neue Kämpfer rekrutieren.

Das aktuellste Thema der vergangenen Tage: die lebensgefährlichen Verteilungskämpfe an den Ausgabestellen für Lebensmittel. Merkwürdig: es sind nicht die Orte der UNO-Organisationen, sondern die der unabhängigen GHF (Gaza Humanitarian Foundation). Die Bilder, die wir hier zu sehen bekommen, vermitteln uns keine Eindrücke von der Unterstützung der Zivilisten, sondern es sind schlimme Bilder von verzweifelten Menschen, die um Lebensmittel ringen. Schüsse sind zu hören. Wer, von wo, auf wen (Zivilisten, GHF-Mitarbeiter) schießt, ist nicht zu erkennen. Aber das bleibt natürlich hängen und schnell werden die Gerüchte laut: Israelische Soldaten würden auf wehrlose Palästinenser schießen, mehr noch: an den Verteilungsstellen würden die Menschen gezielt in die Falle gelockt. -Vielleicht wäre es hilfreich, einmal einen Schritt zurückzugehen und kurz zu überlegen. Wem nützt es??

Israel würde zuerst versuchen, die Hungerkatastrophe abzuwenden – und dann medienwirksam dafür sorgen, dass die ganze Welt sich voller Abscheu von Israel distanziert? Das macht beim besten Willen keinen Sinn. Vielmehr liegt es im Interesse der Hamas, das Empörungspotential hochzuhalten und die Politik des Westens zu beeinflussen. Was ja offensichtlich bestens gelingt.

Erwähnt werden sollte auch, dass die Bilder und damit ihre Deutung, die wir hier jeden Tag bekommen, von der Hamas geliefert werden, in diesem Falle vom Palästinensischen Gesundheitsministerium.

Israelische Hilfslieferungen gibt es nicht erst, seit der internationale Druck zugenommen hat. Auch hat Israel 2023 eine umfangreiche Impfaktion für die Kinder in Gaza gestartet, um Polioausbrüche zu bekämpfen – lange, bevor die UNO auf das Problem aufmerksam gemacht hatte. Das israelische Militär lieferte die Ampullen, mit denen eine Million Kinder versorgt werden konnten.

Es kann, darf und muss Kritik am israelischen Militäreinsatz Gaza geben. Aber eine „genozidale“ Absicht zu unterstellen, ist nicht gerechtfertigt; unabhängig von den Vertreibungsphantasien einiger rechtsradikaler Regierungsmitglieder oder Siedleraktivisten.

Bucher zieht für sein Anliegen, Empörung beim Leser zu wecken, alle Register: die Leserlenkung wird sorgfältig in Szene gesetzt. Die sehr emotionale Sprache , wenn es um die Beschreibung der Zivilisten geht, wird kontrastiert mit der sachlichen, ja kalten Darstellung des israelischen Armeesprechers. Muss man nicht machen, aber man kann – andere Zeitungen, andere Zeitschriften machen es auch. Doch es gibt Haltelinien, die man nicht überschreiten sollte.

Bucher schreibt von einer Festlegung der „Durchschnittsquote der getöteten Minderjährigen, die das israelische Militär jeden Tag erfüllt“ und fährt dann fort: „wenn man die Tage des Gazakrieges durch 16 000 getötete Kinder teilt, sind es 24 Kinder und Jugendliche, die Tag für Tag ihr Leben verlieren. Jeden Tag eine Schulklasse!“ Wie er zu dieser Zahl kommt, erschließt sich mir nicht, ich war aber auch nie gut in Mathematik. Doch das ist nicht entscheidend, da jede Zahl zu hoch ist.

Das Schlimme ist, dass Bucher wissen müsste, dass die Zahlen zu hoch sind, Zahlen, die die UNO aus palästinensischen Quellen übernommen hat, Zahlen die die UNO ein paar Wochen später selbst korrigierte. Mit diesen Zahlen beschuldigt er die Israelis, als Kindermörder in Gaza aufzutreten, um die Quoten zu erfüllen! Das ist wirklich schändlich.

(Noch eine kleine Anmerkung zu den Quoten: es war Stalin, der in den 30er-Jahren seinen Schergen in jeder Sowjetrepublik Vorgaben machte, in denen er festlegte, wie viele Verhaftungen, wie viele Hinrichtungen es geben musste. Die Quoten konnten sich auch jederzeit ändern.)

Diejenigen, die Buchers Positionen nicht teilen, beurteilt er doch eher herab- lassend: „die gläubige Gemeinde der Proisraelis“ nennt er sie. Das ist dann doch erstaunlich, denn von einem Zusammenschluss von „proisraelischen“ Gruppierungen habe ich bislang nichts gehört. Die „gläubige Gemeinde“ gibt es nicht. Aber es klingt gut, so schön von oben herab. Und ist auch eine schöne Überleitung zu Katrin Göring-Eckhardt, der er, wohl stellvertretend für die ganze „Gemeinde“, vors Schienbein treten möchte. Wird sie anfangs noch als „integer geschätzte grüne Politikerin“ präsentiert, wirft er ihr dann gedankenlose Phrasendrescherei vor. Ihn erbost das Standardargument: „Wenn die Hamas-Terroristen nicht die Bevölkerung als menschliche Schutz-Schilde missbrauchten, sich nicht hinter Spitäler und Kindergärten verschanzten, gäbe es keine Toten unter der Zivilbevölkerung von Gaza.“ Warum ist das „gedankenlos“? Warum weigert sich Bucher, für möglich zu halten, dass Göring-Eckhardt ihre Argumentation vielleicht sehr wohl durchdacht hat? Und, so fährt Bucher fort, da sie Theologie studiert hat, müsse sie sich bibelgerecht, was immer das auch heißen mag, verhalten. Um dann, doch sehr nonchalant, gute? Ratschläge zu geben. „Die bibelkundige Theologin Katrin Göring-Eckhardt sei daran erinnert, wie …(Gen 18,23)“. Es ist doch immer wieder verwunderlich, wie diejenigen, welche sich vermutlich nicht an die Verhaltensregeln der Bibel gebunden fühlen, diese den anderen als Vorgaben mit auf den Weg geben wollen.

Ist das jetzt ein Zeichen von Arroganz, der souveräne Intellektuelle gibt ein paar Tipps? – Sei’s drum.

Degoutant (ich möchte auch mal kurz in diesem altväterlichen Ton schreiben) finde ich allerdings, wie in Buchers Formulierungen immer wieder dieselben toxischen Spuren durchdringen. Da heißt es: „In diesem argumentativen Setting (bei Göring-Eckhardt, gemeint ist aber wohl die ganze „Gemeinde der Proisraeliten“) gibt es immer einen Freispruch für das genozidal anmutende Handeln der israelischen Armee.“

Und jetzt steht wieder der Genozid im Raum, der weiße Elefant. Aber nein, eigentlich ist es kein Genozid – es ist genozidal: und auch das trifft es nicht wirklich, es kommt einem aber so vor („anmutend“). Der Soziologe Niklas Luhmann spricht von „Hintergrundrealitäten“.

Die Rolle der Hamas? – Fehlanzeige. Für sie genügt Bucher in seinem Text eine halbe Seite. Wenn von den Tätern die Rede ist, sollte in unserem Fall nicht auf den Zusammenhang mit der Hamas verzichtet werden – man bleibt sonst bei der halben Wahrheit stehen. Und wenn man das weiß, aber dennoch darauf verzichtet, dann wird die Rolle als Moralapostel fragwürdig.

„Die Hamas hat die Arithmetik des Schmerzes nicht nur verinnerlicht, sondern sie weiß sie gnadenlos für sich zu nutzen“, so Daniel Neumann, der Vorsitzende des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden in Hessen.

Heute (8. August) hat die Bundesregierung beschlossen vorerst die Waffen- lieferungen an Israel einzustellen – Genozidvorwürfe brauchte es dafür nicht.

Ich habe viele kluge Texte von Delf Bucher gelesen, dieser gehört leider nicht dazu.

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