
„Europa, dieser Nasenpopel…“
Wie war das nochmal? Donald Trump hatte weitere Sanktionen gegen Russland und gegen mit diesem in engem politischem und wirtschaftlichem Kontakt stehenden Ländern wie Indien und China angekündigt, sollten Russland nicht zu einer Beendigung des Krieges gegen die Ukraine bzw. Friedensgesprächen, mindestens aber einer Waffenruhe bereit sein. Zuletzt hatte er, diesmal mit – man kennt das ja von ihm – gereizten Tönen Richtung Moskau, verlauten lassen, die zunächst und recht willkürlich angesetzte Frist von 50 Tagen auf zehn Tage verkürzen zu wollen. Abgelaufen wäre die Frist somit am Freitag, 8. August.
Haben wir etwas falsch verstanden? Haben wir falsch gerechnet? Denn geschehen ist nichts dergleichen. Stattdessen schickte Trump seinen diplomatisch völlig unbeleckten Gesandten Steve Witkoff erneut nach Moskau, wo es diesem zuletzt ausnehmend gut gefallen und er so nett geplauscht hatte. Ergebnis dieser neuesten Wendung im Rahmen der pirouettenreichen Trumpschen Außenpolitik ist nun ein für den 15. August avisiertes Treffen der beiden Präsidenten Trump und Putin in Alaska. Teilnahme des ukrainischen Präsidenten? Nicht nötig. Vorherige Abstimmung mit ihm? Nicht nötig. Vorherige Abstimmung mit den Europäern? Nicht nötig.
Es ist, als hätte jemand diese Szenerie vorausgeahnt, als er schrieb:
„Europa, dieser Nasenpopel
aus einer Konfirmandennase,
wir wollen nach Alaska gehn“
Diese wie ein Kommentar zum aktuellen weltpolitischen Topereignis klingenden Zeilen stammen aus dem Jahr 1912 und von dem damals 26jährigen Arzt Gottfried Benn (1886-1956). Erschienen sind sie als erster Vers des Gedichts „Alaska“ in einer Zeit, als sich in Europa das Lebensgefühl des Fin de Siècle und der Dekadenz in bürgerlich-elitären Kreise breit gemacht hatte. Ein Lebensgefühl, das mit ein Grund dafür war, dass eine ganze Generation junger Europäer sich anfänglich mit großer Begeisterung in den dann so genannten „Ersten Weltkrieg“ stürzte, der – wie es der Zufall will – zwei Jahr später im August in seine heiße Phase trat.
Sicherlich sind die Grundbedingungen und -koordinaten des August 1914 und des August 2025 völlig andere. Und Trump ist meilenweit entfernt von den persönlichen Stimmungen und ästhetischen Reflexionen eines literarischen Genies des heraufziehenden Expressionismus wie Gottfried Benn. Es eint sie maximal, hier aber fundamental die Ablehnung dessen, was der ehemalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld einst „Old Europe“ nannte: Seine Kultur, seine Werte, seine Traditionen, seine Komplexität und Kompliziertheit, seine Verstiegen- und Verstritten- und Verkantetheit, seine in all dem begründete Konfusion bei gleichzeitiger Schwerfälligkeit, Unentschlossenheit und Mattigkeit in so vielen Bereichen.
Außerdem war Alaska für Benn nicht der konkrete geographische Ort, wo es ihn, den Berliner Großstadtmenschen, der das, was er beschrieb so sehr brauchte wie mancher Künstlerkollege den regelmäßigen Schuss Morphium, wirklich hinzog. Alaska steht vielmehr als Metapher für ersehnte Leere und Abgeschiedenheit, für das totale Abgeschnittensein von der gewohnten Welt, für den radikalen Gegenentwurf.
Dem stünde ein Donald Trump völlig verständnislos gegenüber. Denn er sieht und inszeniert sich gerne als mächtigster Mann der Welt (vermutlich ist er das auch), und da, wo er ist bzw. wo er die Leute hinzitiert, ist deren Mitte. Und er ist sich sicher, dass nur er allein weiß, wo es lang geht und wohin die Welt ihm folgen muss. Wer’s nicht glaubt, dem werden direkt vom Oval Office aus 10 oder 15 oder 30 oder 39 oder 50 oder 100 Prozent Zölle aufgebrummt, der verliert Fördermittel, muss die USA verlassen, darf keine Show mehr moderieren, bekommt eine 10-Milliarden-Dollar-Klage an den Hals oder Morddrohungen von rabiaten Fans per Pizzaboten.
Sein Gegenüber Wladimir Putin wird über den möglichen Affront hinweglächeln, dass das Treffen in der Region stattfinden soll, die Russland im 19. Jahrhundert dummerweise und aus Geldnot für ein, sorry: Nasenwasser an die USA verkauft hatte – übrigens nachdem das zuvor angefragte Fürstentum Liechtenstein dankend ablehnt hatte. Denn er und seine Mördertruppe werden wieder einmal Zeit gewinnen, die Ukraine weiter zu zerstören. Und die arbeitet seit 2022 für ihn.
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Der zweite und finale Vers des Gedichts von Gottfried Benn lautet:
„Der Meermensch, der Urwaldmensch,
der alles aus seinem Bauch gebiert,
der Robben frisst, der Bären totschlägt,
der den Weibern manchmal was reinstößt:
der Mann.“
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Gottfried Benn, Alaska, erstmals erschienen in der Sammlung „Morgue und andere Gedichte“, Verlag Alfred Richard Meyer, Berlin 1912, hier zitiert nach Gottfried Benn, Gesammelte Werke, herausgegeben von Dieter Wellershoff, Band III, Verlag Klett Cotta, Siebte Auflage, Stuttgart 1989
Abbildung: Claude Guillaumin – Un ministre fin de siècle / Le Grelot, 19 octobre 1890 (Gallica), Quelle: Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=74415686 (Ausschnitt)