Warum den Hungersnot-Leugnern nicht mehr geglaubt wird
Es hat sich etwas verschoben in der Berichterstattung über die Besetzung des Gaza-Küstenstreifens durch Israel. Selbst die deutschen Medien folgen jetzt mehrheitlich nicht mehr Netanhahujs Propagandakrieger. Auch die Kehrtwende von Friedrich Merz bei den Waffenlieferungen könnte damit zusammenhängen.
Lange hat es gedauert, bis Kanzler Friedrich Merz den moralischen Kompass gefunden hat und zumindest teilweise die Waffenexporte nach Israel gestoppt hat. Indes gebe ich gerne zu: Die Aufregung in seiner eigenen Partei zeigt: Dafür brauchte es eine gewisse Chuzpe – ganz nebenbei eines der schönen Lehnwörter des Jiddischen, die in die deutsche Sprache Eingang gefunden haben. Ob nun demoskopische Werte, also der öffentliche Druck, oder völkerrechtliche Bedenken den Kanzler getrieben haben, werden wir erst erfahren, wenn Merz seine Biographie schreibt. Trotz seiner löblichen Kehrtwende möchte ich dennoch an seine Halbherzigkeit erinnern. Immerhin hat Friedrich Merz noch im Januar so getönt: «Was Israel zur Ausübung seines Selbstverteidigungsrechts benötigt, wird Israel auch bekommen. Der Begriff Staatsräson wird sich wieder an Taten und nicht nur an Worten messen.»
Fast 75 % gegen Waffenexport
Bedingungslos unterstützte Deutschland bisher den israelischen Gazakrieg,; anfangs dabei getragen von weiten Teilen der Bevölkerung. Nun aber hat sich unter dem Eindruck des Aushungerns der Bevölkerung von Gaza das Meinungsbild verschoben. Beinahe zwei Drittel der Bevölkerung geht das Vorgehen der israelischen Armee im Küstenstreifen zu weit, so das Umfrageresultat des ARD DeutschlandTrends. Deshalb antworteten auch die Besagten konsequent, als es um die deutschen Waffenexporten nach Israel, immerhin nach den USA die Nummer 2, ging. Nur noch 17 % wollen, dass das Netanyahu-Regime unverändert beliefert wird, während beinahe drei Viertel eine Beschränkung (43 %) oder einen totalen Stopp (30 %) wünschen.
Wenn wir über die Parteipräferenz der Befragten Bescheid wissen – selbst bei der CDU-Anhängerschaft findet hier ein begrenztes Exportverbot eine Mehrheit -, wissen wir wenig über die Motivlage. Darunter werden Menschen mit antisemitischen Einstellungen sein. Oder neurechte Sympathisanten, die eine Relativierung der deutschen Kriegsschuld anstreben nach dem Motto: Die Juden sind auch nicht besser als die Nazis.
Aber ich bleibe optimistisch: In dem demoskopischen Mix von Meinungen war es vor allem die Empathie, welche die deutsche Öffentlichkeit beim Anblick der hungernden Kinder in Gaza aufrüttelte. Ganz nebenbei reagierte die deutsche Öffentlichkeit schon lange viel sensibler auf die Weltnachrichten als auf die Berichterstattung deutscher Medien, die sich ganz dem gouvernemental verordneten Diktum der Staatsräson unterordneten. Den Beweis dafür liefert die Mainzer Langzeitstudie zum Medienvertrauen, die die Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz verantwortet. Mittlerweile sind es nur noch 27 Prozent der Menschen in Deutschland, die der medialen Berichterstattung zum Krieg im Gazastreifen überwiegend trauen. Zum Vergleich: Beim Ukrainekrieg sind es immerhin 40 Prozent.
Mit der aktuellen Hungerkrise hat sich nun der Fokus verschoben. Während sich bis vor kurzem die Medienberichterstattung mehrheitlich ohne Quellencheck aus den Medienmitteilungen der israelischen Armee beziehungsweise ihrer Regierung bediente, sie teilweise eins zu eins in Liveticker publizierte, wird nun das gemacht, was journalistisches Handwerk schon immer ausgezeichnet hat: Mehrere Quellen heranziehen, Fakten checken und sich nicht mehr beeindrucken lassen von dem Argument der israelischen Propaganda: Es ist die Hamas, die die humanitäre Katastrophe gezielt herbeiführt, um mit Katastrophenbildern Israel zum Sündenbock zu machen.
Der mediale Umschwung zu einer unparteiischen Berichterstattung setzte in vielen Ländern schon früher ein. Dies lässt sich auch daran ablesen, dass viele Staatschefs wie der französische Präsident Emmanuel Macron oder der britische Premier Keir Starmer einen Politikwechsel vollzogen haben und die Zweistaatenlösung nun nicht mehr als Lippenbekenntnis einfordern, sondern sie bei der anstehenden UN-Generalsversammlung verankert wissen wollen. Im Angesicht der Alptraumbilder aus dem Küstenstreifen musste nun auch Merz die von der Staatsraison abgeleiteten bedingungslosen Loyalität abrücken und ein partielles Waffen-Ausfuhrverbot ankündigen.
(Kein) Hunger in Gaza
Diese tektonische Verschiebung in der Medienlandschaft wird von der pro-israelischen Seite natürlich aufmerksam verfolgt. Denn nun wird evident, was der langjährige Nahostkorrespondent Richard C. Schneider in der NZZ mit einem gewissen Bedauern feststellt: «Israel droht die Propagandaschlacht zu verlieren.» Das ist eine Entwicklung, dem Netanjahu versucht entgegenzutreten. Denn immer weniger folgen die internationalen Medien, auch die deutschen, seiner Erzählung, dass es keine Hungerkrise in Gaza gibt.
Deshalb hat der israelische Premier die Vertreter der internationalen Medien vor einigen Tagen geladen, um nochmals klarzustellen: Die Erzählung vom Hunger sei das Resultat des Propagandakriegs der Hamas-Terroristen. Von «fake starving children» – von verlogen fabrizierten hungernden Kindern – sprach er bei dieser Pressekonferenz. Dann griff er in die perfide Trickkiste, um die glaubwürdigen Berichte über die Hungersnot zu denunzieren. Netanjahu verwies auf die alte Ritualmordlegende von den christlich ermordeten Kindern, deren Blut in das Feiertagsbrot (Mazzot) eingebacken würde. «Heute wird der jüdische Staat auf gleiche Weise verleumdet», sagte Netanjahu und wiederholte sein Mantra: «Es gibt keine Politik des Aushungerns im Gazastreifen, und es gibt keinen Hunger im Gazastreifen.»
Interessant dabei: Der Chefredakteur, der in Berlin erscheinenden «Jüdischen Allgemeinen», Philipp Peyman Engel, könnte problemlos den Job als Netanjahus Redenschreiber übernehmen. Bereits am 31. Juli konterte er die Bilder aus Gaza mit dem alten Ritualmord-Topos. Und natürlich ist alles, was über den Hunger in Gaza geschrieben oder in visuellen Medien dargestellt wird, für ihn Fake News. So fragt er: «Wussten Sie, dass in diesen Tagen Hunderte Tonnen an Hilfslieferungen an der Grenze zu Gaza in der Sonne verrotteten, weil die Vereinten Nationen und andere Organisationen sie schlicht und einfach nicht abholten?»
Nothilfe – Militärisch oder neutral?
Geflissentlich ignoriert er, dass immer wieder Konvois blockiert werden, dass immer wieder den Hilfswerken komplizierte Routen durch gefährliches Gebiet vorgeschrieben werden, dass Grenzübergänge geschlossen werden, dass Checkpoints mit ihren stundenlangen Kontrollen zu Hindernissen werden, um die Hungernden zu erreichen, dass die Militarisierung der Hilfe die humanitären Organisationen vor ein Dilemma stellt: Mitmachen beim bösen Spiel oder weiterhin konsequent auf eine neutrale und nichtmilitärische Nothilfe zu pochen.
Auf dem Höhepunkt seines Tremolos legt der PR-Krieger jede Hemmung ab und fragt: «Wussten Sie, dass Israel das einzige Land in der Geschichte ist, das – mit guten Gründen – die Bevölkerung jenes Landes ernährt, von dem es angegriffen wurde?»
320.000 Kinder mangelernährt
Für mich ist es tröstlich: Solche Propaganda kann nur Verblendete erreichen, die bereit sind zu verdrängen, dass die Bevölkerung von Gaza eine von Israel drei Monate lange Lebensmittelblockade durchlitt und dass 320.000 Kinder unter fünf Jahren von akuter Mangelernährung bedroht sind.
Wie Peymann Engel – wenn auch wesentlich subtiler – versucht Richard C. Schneider in der NZZ, Vorwürfe zu zerstreuen, dass bei der Lebensmittelverteilung der Stiftung mit dem schon klingenden Namen Gaza Humanitarian Foundation israelische Soldaten auf Menschen schiessen. Eigentlich sind die Fakten dazu leicht recherchierbar. Westliche Ärztinnen und Helfer verschiedener Hilfsorganisationen bestätigen das unangekündigte Feuer auf hilfesuchende Hungernde, und die kritische israelische Zeitung «Haaretz» veröffentlichte Aussagen von israelischen Soldaten, sie hätten auf Befehl in die Menge gefeuert – mit tödlichen Folgen.
Trotzdem kommt Schneider ins Grübeln: «Handelt es sich um eine Eskalation im Zuge einer chaotischen Hilfslieferung? Gab es Bedrohungen aus der Menge? Wer hat zuerst geschossen? Diese Fragen bleiben meist unbeantwortet.»
Zweifel säen, Fakten diskreditieren
Das gehört zur Trickkiste der Hungersnot-Leugner: Mit einer Kaskade von Fragen zu verwirren, damit am Schluss nicht mehr klar ist, was Fiktion, was Fakt ist. DER SPIEGEL-Redakteur Matthias von Rohr umschreibt dies so: «Die Strategie geht so: Zweifel säen, Bilder diskreditieren, Zahlen infrage stellen – auch wenn die Fakten eindeutig sind.»
In der linksliberalen, jüdischen Online-Zeitung «The Forward» aus New York geht der Autor xx noch weiter: Er zieht Parallelen bei der Methode «Zweifel säen» zu den Holocaust-Leugnern. Das hat sicher etwas für sich. Nur ist zu bedenken: Viele Desinformationskampagnen, ob von Putin oder Trump, funktionieren oft nach dem Prinzip: «Ich weiss es nicht genau. Aber man wird doch noch fragen können …»
Bei der Pressekonferenz vor der internationalen Presseschar hat Netanjahu einen Trumpf, der seine Behauptung «Es gibt keinen Hunger in Gaza» stützen soll: das Bild Muhammad Zakaria Ayoub al-Mutawaq. Der bis zum Skelett abgemagerte Junge wurde in den Armen seiner Mutter auf der Titelseite der «New York Times» (NYT) abgebildet. Der Investigativjournalist David Collier fand dann heraus, dass der Junge an erblichen Krankheiten leidet. NYT entschuldigt sich für diesen Fauxpas und schreibt dazu: Der Gesundheitszustand des Jungen «hat sich in den letzten Monaten rapide verschlechtert, da es immer schwieriger wurde, Nahrung und medizinische Versorgung zu finden, und die Klinik, in der er behandelt wurde, sagte, er leide an schwerer Unterernährung.»
Natürlich kann niemand beurteilen, inwieweit Muhammeds Gesundheitszustand durch die beginnende Hungersnot in Gaza, durch den Mangel an medizinischer Versorgung oder durch das Fortschreiten seiner Grunderkrankung verursacht wurde. Andererseits hätte eines die NYT-Redaktion zur Vorsicht mahnen sollen. Das Bild wurde zuerst von der staatlich-türkischen Nachrichtenagentur Anadolu publiziert, einem üblichen Verdächtigen, die es mit der Wahrheit noch nie ganz genau hat.
Den Menschenrechten verpflichtet
Aber es zeigt: Eine Berichterstattung, die den Menschenrechten und der Menschenwürde verpflichtet ist, die sich nicht in den Propagandakrieg der Hamas-Terroristen noch der israelischen Invasoren und Besatzer im Küstenstreifen einspannen lassen will, muss es um ihrer Glaubwürdigkeit willen mit dem Faktencheck besonders genau nehmen. Sicher: Das ist ausserordentlich schwierig in einem Gebiet, das auf Anordnung des Netanjahu-Regime für ausländische Journalisten seit dem 7. Oktober «off limits» ist. Aber guter Journalismus muss sich klar abheben von den verzerrenden Darstellungen der Propagandisten beider Kriegsparteien.