
Überdruss und Blindheit
In meinen letzten Beiträgen für unseren Blog „Zeitenwende“ habe ich mich mit Donald Trump und dem von ihm regierten Land bzw. der von ihm repräsentierten Disruption eines demokratischen Staates, zusammengefasst in der Wortschöpfung „Trumpamerika“, beschäftigt. Das Bemühen um eine Analyse bzw. um ein Verständnis dessen, was in den USA vor sich geht, war stets begleitet von Emotionen. Bei mir ist es vor allem die sich steigernde, fast physische Abneigung gegenüber dieser schon als Karikatur ihrer selbst wahrgenommenen, gleichwohl massiv die weltweiten Ereignisse bestimmenden politischen Gestalt.
Andere empfinden ein Gefühl des Überdrusses an der Art und Weise, wie ständig Augen und Ohren auf den bramarbasierenden und um sich schlagenden Potentaten im Weißen Haus gerichtet werden. So platzte dem ehemaligen SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück der Kragen:
„Das geht mir sowas von auf den Senkel, das können Sie sich gar nicht vorstellen. Und wissen Sie warum? Weil wir uns dieser Art der Kommunikation von Trump und seinen ganzen Parteigängern dort beugen. Er bestimmt unsere Debatte bereits am Morgen.
Sind wir wahnsinnig geworden?
Ich kriege inzwischen richtig Streit beim Frühstück mit meiner Frau, weil sie mir immer die größten der gerade stattgefundenen Verrücktheiten von Herrn Trump darstellt. Und ich sage: Lass das mal sein! Morgen jagt der wieder `ne neue Sau durchs Dorf und bestimmt unsere Gedanken, unsere Gespräche und unsere Vorstellungen.
Können wir mal versuchen, uns dagegen abzuschotten und zu sagen: Was müssen wir selber tun in Europa, um uns unabhängiger und resilienter gegen diesen erratischen Politiker jenseits des Atlantiks aufzustellen? Kümmern wir uns mal um unsere eigene Ertüchtigung und das, was wir tun können, statt wie das hypnotisierte Kaninchen auf diesen Trump zu gucken, der auch noch versucht, uns zu beleidigen und vorzuführen mit seinen ganzen abhängigen Figuren, seinen Marionetten! Das ist nicht zu fassen!”
Hat Steinbrück recht mit dem Abschotten? Sollten wir uns tatsächlich von den USA unter Trump abwenden und uns vor allem um uns selbst kümmern, um unser Land und vor allem auch um Europa? Sollte dagegen die Auseinandersetzung mit Trumpamerika zurückstehen?
So wie Steinbrück scheinen es viele zu sehen. Kein Tag vergeht, ohne dass die Medien voll sind mit Nachrichten und Kommentaren, die sich um den erratischen Narzissten auf der anderen Seite des Atlantiks drehen, sein autokratisches Gebaren, seine anmaßenden Drohungen, seine wirre Rhetorik, sein rüpelhaftes Benehmen. Journalisten, Historiker und Sozialwissenschaftler bieten all ihre Erfahrung und ihr Wissen auf, uns die US-amerikanische Gesellschaft, ihre Brüche und Abgründe zu erläutern, nur um danach vor der nächsten rätselhaften Windung der Trumpschen Politik zu stehen. Ist das nicht zu viel des Schlechten?
Und liegt nicht in unserem Teil der Welt vieles im Argen? Die jüngsten Umfragen sehen die AfD bundesweit inzwischen auf Augenhöhe mit der CDU, die ehemalige Volkspartei SPD weit abgeschlagen. Gerade ist mit Andrej Babiš ein weiterer populistischer Politiker in einem Land der EU an die Macht gekommen, dessen Haltung gegenüber seinen prorussischen Nachbarn in der Slowakei und in Ungarn und zu Russland selbst zumindest unklar ist. In Frankreich ist der jüngste Versuch der Regierungsbildung mit dem Rücktritt des frisch ernannten Premierminister Sebastién Lecornu gescheitert, die links- und rechtsextremen Flügelparteien fordern nun den Rücktritt von Präsident Emanuel Macron; bei einer vorgezogenen Präsidentenwahl wäre der Sieg eines Kandidaten oder einer Kandidatin des rechtsextremen Rassemblement National sehr wahrscheinlich – mit unabsehbaren Folgen für die EU.
Es gäbe also genug Anlass, sich auf Europa zu konzentrieren. Doch das eine zu tun, heißt nicht, das andere zu lassen. Ohne Frage, wir müssen uns mehr um den Bestand unserer Demokratien in Europa kümmern. Doch auch wenn die Eskapaden eines Donald Trump schier unerträglich sind und die Wandlung der USA vom Garanten liberaler Freiheit zu „Trumpamerika“, einem autokratischen System mit oligarchischen und religiös-fundamentalistischen Zügen, Albträume verursacht, wir müssen weiter beobachten, was sich dort ereignet.
Der Schriftsteller und Essayist Marko Marin bringt es in einem Interview mit dem „Philosophie Magazin“ auf den Punkt:
„Wir (…) dürfen uns also der Gefahrenanalyse nicht verweigern: Es besteht die sehr reale Gefahr, dass es schlimmer wird. Wir sehen in den USA, wie fragil Institutionen sind, wenn einflussreiche Akteure die Regeln plötzlich nicht mehr beachten, sozusagen das Schachspiel umwerfen und stattdessen zu Karatetricks greifen. Die Institutionen, die wir uns angewöhnt haben, als stets funktionierende Schutzschirme zu begreifen, können also sehr wohl gestürmt und geschliffen werden. Wir müssen verhindern – und hier ist der Rechtsstaat, aber auch jeder einzelne gefragt – dass Antidemokraten die Demokratie auf demokratischem Wege aus den Angeln heben.“
Die USA also als das Terrain, bei dem wir aktuell am schärfsten beobachten können, wie angreifbar das ist, was wir bisher für absolut und unangreifbar hielten.
Anlass für das Gespräch mit Marko Martin ist sein neues Buch „Freiheitsaufgaben“, soeben erschienen im Tropen Verlag. Seine Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit der spezifisch deutschen Erinnerungskultur, sowohl bezüglich des Nationalsozialismus als auch des Kommunismus a la DDR, bilden den Hintergrund, wenn er sagt:
„In Deutschland gibt es bei vielen eine Art selbstgewählte Blindheit – und zwar nicht nur im Osten, sondern auch im Westen.“
Eine, man könnte sagen: anerzogene und breit kultivierte Blindheit, die – neben dem Überdruss politisch informierter Köpfe wie Peer Steinbrück – bei vielen nicht nur die eigene Geschichte und die eigenen gesellschaftlichen Realitäten, sondern inzwischen weite Bereiche des Weltgeschehens betrifft.
Neben Trump zielt Martin insbesondere auf den Moskauer Machthaber Putin:
„Ein erster Schritt wäre, zum Beispiel genau hinzuschauen, was das russische Staatsfernsehen Tag für Tag sendet. Welche Zukunft für den Westen da vorgesehen ist. Welcher Hass, welche Verachtung, welche Vernichtungsfantasien da fabriziert werden. Uns wurde bereits der Krieg erklärt. Den Kopf in den Sand zu stecken (…) ist bereits der erste Akt der Kapitulation.“
Blindheit und Überdruss machen sich bei vielen auch im Zusammenhang mit Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und der Bedrohung nicht nur osteuropäischer Länder breit. Man will die Nachrichten über Tod und Zerstörung nicht mehr zur Kenntnis nehmen.
Marko Martin empfiehlt gegen die grassierende Realitätsverweigerung, noch genauer hinzuschauen. Das Gegenteil dessen also, wonach Peer Steinbrück der Sinn ist. Denn nur, wenn wir die Verhältnisse in Russland und in Trumpamerika im Blick haben, verstehen wir uns und unsere eigene Geschichte besser und können die antidemokratischen Kräfte in unserem Land und in Europa näher begreifen und – so ist zu hoffen – aufhalten.
Quelle Peer Steinbrück: Gin and Talk, https://ginandtalk.com
Quelle Marko Martin: https://www.philomag.de/artikel/marko-martin-deutschland-herrscht-eine-selbstgewaehlte-blindheit
Marko Martin, Freiheitsaufgaben, Tropen Verlag, Stuttgart 2025.
Abbildung: Pieter Bruegel der Ältere (1568), Blindensturz, oder: Das Gleichnis vom Blinden, der die Blinden führt. Museo Nazionale di Capodimonte, Public Domain.