
Theater in der Zeitenwende
Ein Gespräch mit Ulrich Khuon
Wir leben in einer Zeit multipler Krisen. Nach der einigermaßen glimpflich überstandenen Finanzkrise ab 2007 begann 2019 die Corona-Pandemie, die ab dem Frühjahr 2020 insbesondere den Kulturbereich hart getroffen und viele künstlerische Existenzen mehr als gefährdet hat. Mit der Annektierung der Krim 2014 und dann 2022 mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat sich die politische Großwetterlage dramatisch verändert. Hinzu gekommen sind ein eminenter Rechtsruck in den demokratischen Gesellschaften des Westens, ein Aufstieg populistischer Parteien, getoppt durch die erneute Wahl Donald Trumps ins Amt des US-Präsidenten. Eine Entwicklung, die zum einen die gesellschaftliche Spaltung voranzutreiben scheint und zum anderen das Debattenklima nachhaltig vergiftet.
Davon ist auch immer mehr der Kulturbereich betroffen. In einem Gespräch mit Ulrich Khuon möchte ich der Frage nachgehen, wie – pars pro toto – das Theater mit diesen neuen Verhältnissen umgeht.
Ulrich Khuon studierte Rechtswissenschaft, Theologie und Germanistik. 1980 wurde er Chefdramaturg am Theater Konstanz, ehe er von 1988 bis 1993 die Intendanz des Hauses übernahm. Im Anschluss war er von 1993 bis 2000 Intendant am Schauspielhaus Hannover und übernahm zur Spielzeit 2000/2001 die Leitung des Hamburger Thalia Theaters, dessen Intendant er bis 2009 blieb. 1997 wurde er zum Professor an der Hochschule für Musik und Theater Hannover ernannt. Von 2009-2023 war Ulrich Khuon Intendant des Deutschen Theaters Berlin. Von 2017 bis 2021 war er zudem Präsident des Deutschen Bühnenvereins. Im Frühjahr 2020 wurde Ulrich Khuon für sein Eintreten für eine demokratische Debattenkultur, für Geschlechtergerechtigkeit und die Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Künstler*innen mit dem Bundesverdienstkreuz 1. Klasse ausgezeichnet. Ulrich Khuon ist Mitglied der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste und der Akademie der Künste Berlin. Für die Spielzeit 2024/25 übernahm er die Intendanz am Schauspielhaus Zürich.
PC: Die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die wir lange Zeit für unerschütterlich gehalten haben, sind in den letzten Jahren ins Wanken geraten, lösen sich auf. Der Krieg im großen Maßstab ist auf unseren Kontinent zurückgekehrt. Wir scheinen in einer Zeit des Übergangs zu leben, eine Erfahrung, weswegen wir unseren Blog, für den ich dieses Gespräch führen möchte, „Zeitenwende“ genannt haben.
Zeitenwenden haben wir in den zurückliegenden Jahrzehnten nach Ende des Zweiten Weltkriegs allerdings einige erlebt. Darum sprechen manche aktuell auch von einem Epochenbruch, also von viel grundlegenderen Veränderungen.
Welchem politischen und gesellschaftlichen Druck sind vor diesem Hintergrund die Kultur im Allgemeinen und ist das Theater im Speziellen ausgesetzt? Wie reflektieren die Künste und vor allem die Theater diese Krisen?
UK: Um mit der letzten Frage anzufangen: Natürlich spricht das Theater oder sprechen die Künste immer in eine bestimmte Zeit hinein, und zwar nicht nur eine bestimmte Zeit, sondern auch in eine örtliche Situation. Dieses Ortsgebundene, was gleichzeitig natürlich auch die Situation an diesem Ort meint, das macht die Qualität von Theater aus. Wenn man zum Beispiel in Konstanz Theater macht, dann gibt’s einerseits die genannten globalen Themen, die auch Konstanz berühren, aber es gibt auch eine bestimmte Gesellschaft vor Ort, die total anders ist als sie in Berlin oder in Zürich ist, aber auch Ähnlichkeiten aufweist. Es gibt also immer beides. Wir sprechen in die städtische Situation hinein zu einem bestimmten Zeitpunkt. Übrigens auch in Bezug auf die Debattenkultur, auf die man ja auch spezifisch reagieren muss.
Ich würde sagen, in der saturierten, stillen oder auch müden Zeit der Neunzigerjahre, wo es allen angeblich gut gegangen ist und wo viele Debatten, sagen wir: eingeschlafen sind, darauf musste man natürlich reagieren mit der eigenen Lautstärke. Ob man jetzt als Theater fein oder stark agitatorisch oder differenziert agiert, das hat viel mit der Lautstärke um einen herum zu tun. Meine Meinung ist, dass das Theater nicht das, was ohnehin in einer Gesellschaft herrscht, noch mal verdoppeln sollte. Wenn also viel geschrien wird, und so ist es wohl im Moment, sind irritierend leise, öffnende Stimmen, die zur Kommunikation, zum Grenzen überschreiten eher ermuntern oder verführen, besonders wichtig. Das Theater muss nicht zu dem brüllenden Chor um uns herum selber noch mal so laut schreien.
Um es konkret zu machen: Wenn wir uns auf internationaler Ebene mit nationalistischen und autokratischen Tendenzen und in unserem eigenen Land mit der AfD auseinanderzusetzen haben, so glaube ich nicht, dass die Künste bzw. das Theater der Ort einer solchen unmittelbar politischen Auseinandersetzung sein sollten.
Natürlich ist Abgrenzung von Bedeutung, wichtig ist eine erkennbare Haltung zu diesen Phänomenen. Wichtig ist aber gleichzeitig, dass das Theater bzw. die Künste immer ein Ort des Verstehens und nicht des Belehrens sein sollen. Man sollte nicht so tun, als wüsste man Bescheid und sagt der Welt, wo es langgeht. Vielmehr sind das Theater bzw. die Künste ein Raum des Befragens, der deswegen aber auch besonders wichtig ist in Zeiten wo Zerrissenheit oder Blockbildung, wo sich Positionen scheinbar unvereinbar gegenüberstehen.
PC: Wie kann man sich das konkret vorstellen? Unlängst gab es einige Aufregung, weil der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer sich mit dem baden-württembergischen AfD-Vorsitzenden Markus Frohnmaier zu einer Diskussion getroffen hat. Es wurde kritisiert, dass damit die sogenannte „Brandmauer“ hin zur AfD eingerissen werde. Wäre ein solches Format bzw. die direkte Auseinandersetzung mit solchen Positionen auch ein Beitrag zum Befragen und Verstehen?
UK: Nein, nicht unbedingt. Ich selbst habe auch einige Erfahrungen gemacht bezüglich der Begegnung mit der AfD, auch in meiner Zeit als Präsident des Bühnenvereins. Das Thema AfD ist auf der Ebene des Bühnenvereins sehr virulent, da es viele Theater im Osten gibt, wo die AfD schon früh stark wurde, zum Beispiel in Magdeburg oder in Altenburg.
Die Frage, wie wir uns dazu verhalten, war sehr wichtig, und ich habe damals gesagt und würde es heute wieder so sagen: Ich werde die AfD nicht ins Theater einladen, um ihnen eine weitere Plattform zu schaffen. Ich meine die Top-Akteure der AfD. Aber natürlich sollten wir die Auseinandersetzung nicht scheuen.
Ich nahm 2017 an einer Podiumsdiskussion mit dem AfD-Kulturpolitiker Hans-Thomas Tillschneider in Magdeburg teil. Und ich war in Altenburg und habe auf Einladung des Bürgermeisters eine Diskussion zwischen mehr oder weniger verfeindeten Gruppierungen innerhalb der Stadtgesellschaft moderiert, was insofern interessant war, als ich ja von außen kam und eine gewisse Grundahnung hatte, aber ich konnte nicht ahnen, was in der Diskussion konkret hochkocht. In Altenburg ist diese Art von Vermittlung bzw. Austausch damals ganz gut gelungen.
Wie gesagt: Man sollte der Auseinandersetzung nicht aus dem Weg gehen, das wirkt, als sei man ängstlich oder man sei dem nicht gewachsen. Man kann vor der AfD nicht weglaufen, und man kann in Diskussionen mit Leuten aus dem Publikum, wo mit ziemlicher Sicherheit Personen sitzen, die die AfD wählen, auch nicht nur sagen, die reden alle Unsinn. Diskussion ist sehr vielschichtig. Man muss sich der Auseinandersetzung stellen, doch sollte man dieser Partei keine Plattform bieten, damit sie ihre Wirkfläche vergrößern kann.
Grundsätzlich finde ich Palmers Weg richtig, ein Gespräch zu führen. Ob man, wenn man sich intensiv mit dem AfD-Vertreter auseinandergesetzt hat, bereichert rausgeht, das ist die Frage. Aber man geht aus vielen anderen Diskussionen auch nicht garantiert bereichert raus. Sicher sind Anstöße dabei, die was mit einem machen. Ich finde ohnehin, dass man die AfD jetzt nicht als Block von lauter Gleichdenkenden behandeln sollte nach dem Motto: Wir kennen ja deine Motive und wir wissen, die sind unterirdisch, die sind nationalistisch oder faschistisch. Es ist vielmehr ein Gemisch an Motiven, warum jemand bei der AfD mitmacht oder sie wählt.
Die Tatsache, dass man nicht mit ihnen kollaboriert – was ich richtig finde – , macht sie im Übrigen stärker, weil sie dadurch zu einem Sammelbecken derer werden, die gegenüber den etablierten demokratischen Partei kritisch eingestellt sind.
Also nochmal: Auseinandersetzung im Dialog, ja, aber Plattform für Parolen, nein!
PC: Wir müssen davon ausgehen, dass die AfD weiter auch in die kulturpolitisch zuständigen Gremien Einzug hält bzw. dort stärker wird. Ich habe im Rahmen meiner Tätigkeit für eine Kultureinrichtung in Pforzheim die Erfahrung gemacht, dass man um eine Zusammenarbeit mit Vertretern der AfD nicht herumkommt. Anfangs saß ein AfD-Vertreter im vom Gemeinderat bestimmten Aufsichtsrat, nach der Kommunalwahl waren es aufgrund des Stimmenzuwachses drei. Man kann in einem solchen Gremium keine Brandmauer hochziehen. Auf sachliche Fragen muss man sachlich antworten, und ansonsten muss man sich bemühen, positive Abstimmungsergebnisse für seine Einrichtung im Gemeinderat – in Pforzheim stellt die AfD die stärkste Fraktion – zu bekommen, ohne seinen Auftrag als Kultureinrichtung aus dem Blick zu verlieren.
Wie ist es aber mit den direkten Reaktionen an den Theatern auf politische Vorgänge oder auch auf die weltweiten Gefahrenlagen und die inzwischen offene kriegerische Aggression, sei es in der Ukraine, sei es in Gaza, sei es bei dem Angriff vor kurzem auf den Iran?
Um Beispiele aus der Vergangenheit zu nennen:
Ich kann mich gut erinnern, wie am Stadttheater Konstanz reagiert wurde, als im Januar 1991 der Erste Irakkrieg, nach einer anderen Zählung der Zweite Golfkrieg, ausbrach. In weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit war man erschüttert. Jahreszeitbedingt wurde der Karneval bzw. die Fasnacht abgesagt. Am Theater gab es spontan Programmänderungen, Vorstellungen wurden abgebrochen oder es gab statt Vorstellungen Vorträge und Podiumsdiskussion.
Im Jahr 2015 waren infolge der Flüchtlingskrise viele Theater bereit, an den Refugees-Welcome-Aktionen teilzunehmen. Auch im Zusammenhang mit dem Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine gab es – wenn auch nicht im Umfang wie zu Zeiten des Irakkriegs – klare Positionierungen der Theater.
UK: Ich fand das damals Anfang der 1990er Jahre schon nachvollziehbar, und mir ging’s auch selber so wie manchem Ensemblemitglied. Allerdings ist es ein Unterschied, ob sich ein Schauspieler hinstellt und sagt, ich kann heute Abend nicht spielen, oder ob ich als Intendant 400 Besuchern und Besucherinnen erklären muss: Heute keine Vorstellung! Wir haben es damals nach meiner Ansicht grundsätzlich richtig gemacht. Es gab spannende Abende, weil wir mit denen, die kamen, darüber diskutiert haben, warum jetzt nicht gespielt werden kann.
Am Anfang war die Aufregung gigantisch: Wieso könnt ihr nicht euren Job machen und spielen? Nach zweieinhalb Stunden Diskussion war ein Punkt erreicht, wo viele verstanden haben, das sind Schauspieler, die können nicht wie Maschinen an- und abgestellt werden, sie sind existenziell ein Teil des Projektes auf der Bühne.
Für mich ist entscheidend, dass Theater immer eine gesellschaftliche Wirksamkeit hat. Selbst wenn wir den „Zerbrochenen Krug“ spielen, ist es darin eine Botschaft an die Gesellschaft, in diesem Fall in die Me-too-Debatte hinein oder in die Debatte über männliche Macht. Es gibt aus meiner Sicht kein Stück, wo wir sagen, das löst sich völlig ab von unserer politischen und individuellen Existenz.
Insofern sind die Erschütterungen, die wir als Gesellschaft erfahren, etwas, das sich in uns abbildet. Ich fand es auch stets richtig zu erkennen, was diese Erfahrungen für uns als Theater, für uns als Ensemble bedeuten. 1991 entstand eine große Erschütterung, und wir konnten für einige Monate ein großes Programm aufstellen, haben unter anderem Uni-Professoren eingeladen, die – wie Professor Friedrich Kambartel – über die Frage des gerechten Kriegs referierten.
Ziemlich genau ein Jahr später haben wir in der Werkstatt-Bühne einen Abend gemacht, wo vom künstlerischen Teil des Hauses kaum jemand mehr präsent war. Wenn man dem Publikum sagt: „Ich bin so erschüttert, dass ich nicht mehr handlungsfähig oder arbeitsfähig bin!“, dann reicht mir das nicht, dass ich mich alle paar Monate über etwas Neues errege und dem Publikum vortrage, worüber ich mich gerade aufrege oder Aufrufe zum Widerstand veröffentliche, doch nach kurzer Zeit ist für mich erledigt.
Wenn wir als Künstler meinen, uns in die Debatte einmischen zu müssen, dann genügt es nicht, ein Statement abzugeben. Ich finde es heikel hinzugehen, auf der Bühne nur einen Aufruf zu verlesen. Es darf nicht nur eine einseitige Belehrung des Publikums geben nach dem Motto „Friss oder stirb“. Das Publikum kommt nämlich nicht wegen dieses oder jenes Statements, sondern weil es eine Aufführung sehen will.
Es stellt sich die Frage: Was hat es für mich für eine Konsequenz? Aus meiner Sicht ist es die nachhaltige Arbeit an der Sache! Wir haben am Deutschen Theater seit 2018 schon vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine ein großes Ost-West-Programm, oder besser gesagt eigentlich Ostprogramm, entwickelt: ein Festival unter dem Titel „Radar Ost“. Das lief sehr erfolgreich und brachte Einzelkünstler und Gruppen aus Georgien, Russland, Belarus und der Ukraine nach Berlin. Das Deutsche Theater hat per se, wenn man so will, schon aufgrund seiner Tradition eine hohe Ostkompetenz.
Und da komme ich jetzt zum Anfang unseres Gesprächs zurück: Ich glaube schon, die Politik ist die Politik, und da werden Konflikte gestaltet und ausgetragen, manchmal forciert und manchmal wieder beigelegt. Die Kultur bespielt im Grunde die Metaebene, und da wo die Politik sich nicht mehr verständigen kann, da ist natürlich die Kultur von großer Bedeutung, weil auf der kulturellen Ebene ein Austausch jenseits der politischen Ebene möglich ist. Sie gibt den Gesellschaften Sprachfähigkeit, und das, würde ich sagen, ist von größter Bedeutung.
In der Kultur sind Konfliktbeschreibungen möglich, die die Politik nie leisten kann, weil sie immer im unmittelbaren Handeln bzw. Reagieren befangen ist. Mir war es aber gleichzeitig wichtig, dass die Kultur auch zur Differenzierung fähig sein muss. Das heißt, wir haben mit Künstlern, die in Russland größte Mühe haben, in dieser Diktatur noch arbeiten zu dürfen, zusammengearbeitet. Und als es dann hier hieß, mit Leuten aus Russland kann man doch nicht mehr arbeiten, da habe ich geantwortet, das kommt darauf an. Wir müssen die Künstler, die in Russland von Putin verfolgt werden, so wie die Ukraine verfolgt wird, eine Möglichkeit geben, an unserem Haus zu arbeiten. Ich habe mehrmals vor der Vorstellung, wenn das Stück eines russischen Künstlers auf die Bühne kam, dem Publikum den Hintergrund erklärt. Es ist wichtig, dass die Zuschauer und Zuschauerinnen auch wissen, dass wir keine russischen Positionen präsentieren wollen, sondern dass wir russischen Künstlern, die selber unter der Diktatur leiden, hier einen Ort bieten wollen.
Was ich sagen will: Es genügt nicht, spontan Vorstellungen ausfallen zu lassen und Statements zu platzieren, sondern man muss ein nachhaltiges Engagement darüber hinaus zeigen.
Ein gewisser zeitlicher Abstand zu den Ereignissen schadet übrigens nicht, auch wenn dieser im Falle der Ukraine sehr kurz war. Unsere Aufgabe ist nicht die permanente Übersetzung von Tagesaktualität, denn es gibt inzwischen auch eine Art Übersättigung mit Aktualität. Viele meiden inzwischen die Nachrichten. Es ist eine Frage der Reflexionshöhe. Wir Theaterschaffenden müssen den Stoff in eine künstlerische Form bringen, wobei wir uns immer fragen sollten, ob uns nicht vielleicht mehr Besonnenheit oder Nachdenklichkeit den Themen gegenüber besser anstünden.
Außerdem finde ich, dass im Theater nicht nur aufgeklärte, politische relevante Positionen vertreten, sondern natürlich auch Paradoxien sichtbar werden müssen, also Außenseiterpositionen, überraschende Momente, die nicht nur bestätigen, was wir eh schon wissen, sondern uns ins Grübeln bringen.
PC: Aktuell steigen die Umfragewerte für die AfD kontinuierlich an, sie haben bald, wie es scheint, die der CDU ein- oder überholt, zuletzt im Rahmen der Kommunalwahlen in NRW. Setzt das die Kulturschaffenden nicht unmittelbar unter Druck?
Mal bildhaft gesprochen: Wenn wir uns diesen Trend nach rechts als Pendelschlag vorstellen: Beobachtet die Kultur- bzw. Theaterszene das Pendel von außen und beschreibt lediglich, oder sitzt die Kultur zwangsläufig mit auf dem Pendel, ist also Passagier, oder versucht man aktiv, das Pendel aufzuhalten?
UK: Die Reflexe auf bundespolitischer Ebene sind meist dieselben. Das ist sehr repetitiv. Jetzt haben die schon wieder mehr Prozente: Was macht ihr da dagegen, wie reagiert ihr? Man bekommt Unterschriftenlisten vorgelegt, soll wieder bei irgendetwas mitmachen. Noch eine Petition, noch ein Statement. Dabei wird man sehr beobachtet. Sagst du irgendeinen schrägen Satz, dann wird das alles vergrößert und vergröbert rübergebracht, was zusätzlich die Stimmung anheizt. In diesen Zuständen der allgemeinen Erregung kann man kaum in Ruhe arbeiten.
Auf der regionalen, kommunalpolitischen Ebene hingegen kann man als Theater schon eher etwas herausarbeiten, man kann herausbekommen, was vor Ort fehlt, und wo wir uns dem, was fehlt, widmen können. Wie können wir in den Städten und in der Region Gemeinschaft schaffen, die nicht nationalistisch geprägt ist?
Um dein Bild aufzugreifen: Den Pendelschlag von außen lediglich zu beobachten, das wäre eine Haltung wie beispielsweise bei Anton Tschechow. Bei dem, was wir im Moment erleben, sind wir aber wohl Passagier. Wir müssen in diesem Sinne auch die aktuellen Wahlergebnisse als demokratische Entscheidung akzeptieren. Aber uns bleiben immer noch und trotz allem Handlungsmöglichkeiten. Die Wahlergebnisse und die geänderte politische Stimmung bedeuten nicht, dass wir zu schweigsamen Begleitern werden.
Um noch mal auf dein Bild zu sprechen zu kommen: Wir kommen gar nicht drumherum, wir sind notwendigerweise teilnehmende Passagiere auf dem Pendel, doch können wie in jedem Fall dazu beitragen, die Diskussionen zu erweitern, zu verändern, andere Sichtweisen anzubieten.
Ich finde, Kultur oder Künste müssen grundsätzlich immer in der Form und im Inhalt zum Reichtum der Debatte beitragen. Und gerade deswegen sind die Umwege, die die Künste begehen, oft die interessanteren Wege. Du kannst bei jeder Erzählung sagen: Sag doch mal kurz und klar, um was es inhaltlich geht.
Zum Beispiel bei Parzival geht es um die Mitleidsfrage, das kannst du in drei Sätzen zusammenfassen. Aber warum wurde ein umfangreicher Text um die Parzival-Legende geschrieben? Wichtig ist, dass man den Weg durch den umfangreichen Text, durch das Kunstwerk hindurch geht, das ist eine Art Seelenbildung oder auch das Instrument für eine sehr besondere Erfahrung, ein umfassender Bildungsweg eben.
So gesehen würde ich sagen, dass das Theater als bloßer Passagier im Grunde ein zu schwacher Ausdruck ist, denn ich fahre nicht nur mit, sondern ich gestalte mit, aber auf andere Weise, als wenn ich Politik machen würde.
Wenn ich rein politisch agieren wollte, dann muss ich in die Politik gehen, lasse mich für den Gemeinderat aufstellen etc. Daher habe ich schon einen ziemlichen Abstand zu Aktionisten wie den Leuten vom „Zentrum für politische Schönheit“. Du kannst mit solchen Aktionen sicherlich immer noch eins draufsetzen, du kannst eine immer noch stärkere Tabuverletzung begehen und noch mehr Aufmerksamkeit erreichen, aber welche nachhaltige Wirkung das hat, außer dass die Leute sich über mich aufregen – was in einzelnen Fällen durchaus interessant und wichtig sein kann –, das ist sehr fraglich.
Um auf die aktuellen Ereignisse einzugehen, zum Beispiel die Gaza-Krise: Wenn jemand diesen Konflikt anders interpretiert als die aktuelle israelische Regierung Netanyahu, wird er hier – siehe den Fall Omri Boehm – ausgeladen. Herr Weimer konnte sich nicht entschließen, das einen Skandal zu nennen, aber wenn der israelische Dirigent Lahav Shani ausgeladen wird, dann ist es ein Skandal. Ich bin schon der Meinung, dass es auch die Ausgrenzung von Omri Boehm ein Skandal ist. Boehm ist ein komplex denkender Philosoph, und ein solcher Vorgang ist schon interessant, das heißt, wo schlagen wir Alarm und wo nicht.
Ich bin stets der Meinung, jemanden seinen Standpunkt vorbringen zu lassen, bevor man irgendwas verbietet. Auf diese Haltung passt das schreckliche Schlagwort von der Cancel Culture.
PC: Ich komme noch einmal auf die Ausgangsfrage zurück: Welche Auswirkungen haben die aktuellen Krisen und die elementaren Umbrüche, das Sichauflösen von Gewissheiten, die wir jahrzehntelang hatten – welche Auswirkungen hat das auf den gesamten Prozess des Theatermachens, die ganze Produktionskette von der Zusammenarbeit mit den Autorinnen und Autoren, der Arbeit in der Dramaturgie mit dem Sichten neuer Themen und Texte, dem Erstellen eines Spielplans usw.? Ist alles so wie immer, oder gibt es da Veränderungen? Du hast zum Beispiel schon sehr früh mit den Autorentheatertagen ein Format geschaffen, das vor allem jungen Stimmen einen Zugang zur Öffentlichkeit verschafft.
UK: Es ging immer darum, neue Aspekte bzw. Themen reinzubringen, nicht nur neue Stile. Wir wollten neue Stimmen bekommen, die nicht repetitiv sind, die nicht den gewohnten Blickwinkel liefern, sondern die öffnen, bei denen man überrascht wird. Dabei reichte es nicht, dass man das Thema gerade in den Tagesthemen gesehen hat, und das bekomme ich nun noch mal im Stück erzählt.
Klar, wir sollten uns auf die Zeit beziehen, aktuell sein, aber man kann nicht kommandieren und den Autoren und Autorinnen befehlen, jetzt beschäftigt euch mal mit dem Ukraine-Krieg oder mit Gaza. Stücke, die wir am Schauspielhaus Zürich aufführten, zum Beispiel von Dea Loher oder Maria Ursprung, beschäftigten sich mit der KI-Problematik oder mit der umfassenden Einsamkeit in der Gegenwart. Hier erkennen die Menschen etwas wieder von ihrer Gegenwart, was sie selber verstört und was jetzt gar nichts mit Trump oder mit Putin zu tun hat, sondern mit unserer dauerkommunizierenden Gesellschaft, die aber im Grunde dann viele bedeutungsvolleren Beziehungen beiseitelegt.
Mit dem Stück „Staubfrau“ von Maria Milisavljewitsch hatten wir ein individuelles und hochpolitisches Thema, die Femizide. Wir haben festgestellt, dass über dieses Thema viel zu lange zu wenig debattiert wurde.
Ich bringe mal, etwas bösartig, ein Gegenbeispiel: Da gibt es die Kritik am „Tatort“, der sonntags in der Form des Krimis gerne diese gesellschaftlichen Themen direkt verarbeitet, gierige Unternehmer, die sich unsozial verhalten, wo es um Menschenhandel, Menschenschmuggel und um Asylanten geht, alles, was man eher im linksliberalen Mainstream wichtig findet und anschaulich gemacht werden möchte.
Die Frage ist aber letztlich dann doch, welche ästhetische Qualität und Intensität hat eine Aufführung. Es geht nicht in erster Linie darum, welche sozialen Mainstream-Themen aufgegriffen und eins zu eins abarbeitet werden, es kommt vielmehr darauf an, wie sie künstlerisch verdichtet bearbeitet werden. Es kommt auf die Form an und die Balance von Inhalt und Form.
PC: Das Phänomen dieses Mainstreams ist eine Frage der Gewohnheit. Wir waren es in unserem gesicherten Bereich gewohnt, uns um bestimmte Dinge, die uns wichtig erschienen, zu kümmern. Hier gab der linksliberale Mainstream sicherlich in den letzten Dekaden den Ton an. Denn um uns herum herrschte Frieden, und wir konnten uns ganz auf innergesellschaftliche Problemfelder, global gesehen um Klimawandel und um das Nord-Südgefälle konzentrieren.
Was kriegerische Aggression anbelangt, war es hingegen fast wie in der berühmten Osterspaziergangs-Szene aus Goethes „Faust I“, wo es behaglich heißt: „Nichts Bessers weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen / Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei / Wenn hinten, weit, in der Türkei / die Völker aufeinanderschlagen“. Es ging uns praktisch nichts direkt an, berührte unseren Alltag nicht. Menetekel waren allein die Flüchtlingsströme, zuerst in den 1990er Jahren vom Balkan, ab 2015 aus Nahost.
Nun aber heißt es von hoher Stelle angesichts des Kriegs gegen die Ukraine, wir seien nicht „kriegstüchtig“. Niemand von uns hätte je damit gerechnet, dass wir uns mit der Frage der Kriegstüchtigkeit auseinandersetzen müssten. Viele vorher virulente und viel debattierte Themen geraten dabei in den Hintergrund. Für mich ist das eines der markantesten Kennzeichen der Zeitenwende. Schlägt das in irgendeiner Weise auf die Produktionsprozesse der Theater durch?
UK: Ich persönlich fand dieses Bashing der Bundeswehr schon früher problematisch, weil zu eindimensional. Denn natürlich kann es zu Situationen kommen, wo das Land abwehrbereit sein muss. Darüber hinaus gab es immer schon Notsituationen und Aufgaben, wo die Bundeswehr hilfreich sein konnte. Und es kann durchaus Situationen geben, wo der Pazifismus an eine Grenze kommt. Wir brauchen sicherlich die Möglichkeit der Notwehr. Der Ukraine muss geholfen werden, sonst wird sie von Russland überrannt und das Selbstbestimmungsrecht dieser Nation geht verloren.
Den Impuls, den du beschreibst, den finde ich zum Beispiel wichtig, um ihn im Theater zu verhandeln. Es kommt, wie erwähnt, darauf an, wie man es macht, zum Beispiel mit dokumentarischen Recherchestücken. Die Frage ist immer: Schaffst du etwas Anregendes im Theater, das über das Übliche und sowieso schon Durchdiskutierte hinaus geht. Kann man einen Beitrag leisten, der neugierig macht, sodass man zusätzliche Einsichten bekommt.
PC: Wenn wir auf die letzten 50 Jahre zurückblicken: Ich bin in der Nach-68er-Zeit aufgewachsen, da gab es schon eine ziemliche Politisierung des Theaters. Man ging weg von den Klassiker-Inszenierungen, es gab das Dokumentar-Theater mit Stücken von Heinar Kippart und Peter Weiss, Stücke von Brecht wurden sehr politisch interpretiert. Seit dieser Zeit, so mein Eindruck, ist das Theater vielfach politisch klar links von der Mitte positioniert und engagiert. Es vermittelte den Eindruck, dass es immer weiß, wo vorne ist. Dann kamen zuletzt die identitätspolitischen Themen, Homosexualität und Transgender, oder Themen wie Migration und Integration bzw. Inklusion etc., worauf sich dann in letzter Zeit die politische Rechte eingeschossen hat.
Grundsätzlich oder gerade wegen solcher Widerstände von rechts schien das Theater sich doch lange Zeit sehr sicher zu sein, auf der richtigen politischen, der aufklärerischen und emanzipatorischen Seite zu stehen. Und nun kommt mit einem Begriff wie „kriegstüchtig“ eine Art Turning point. Es tauchen auf einmal Themen im Raum auf, die in eine völlig andere Richtung gehen, eine Art Gegenwind.
In den USA können wir zudem gerade beobachten, wie schnell die Trump-Regierung auf die Universitäten und die Kultureinrichtungen losgeht und, wenn sie nicht spuren, den Geldhahn zudreht. Oder wie dort Druck auf Medien ausgeübt wird, die sehr schnell reagieren und Sendungen absetzen und sich von langjährigen Moderatoren trennen. Ist das nicht auch eine Situation, die bei uns eintreten könnte?
Etwas polemischer gefragt: Sind die größten internen Probleme, die die Theater haben und immer wieder artikulieren, die ständigen Sorgen um nicht ausreichende Zuschüsse, nicht genehmigte Personalstellen und marode Häuser? Oder besteht auch Sorge, dass die sich die verändernden Diskurse – der um die Frage der Kriegstüchtigkeit ist nur einer davon – die bisherige Selbstgewissheiten des Theaters tangieren könnten? Wie geht man um mit der wachsenden rechten Szene? Ist es nicht insgesamt gesehen gefährlicher geworden, sich als Künstler in dieser nach rechts driftenden Gesellschaft und angesichts realer Bedrohungen von innen und außen zu positionieren, Haltung zu zeigen? Salopp gefragt: Was macht das alles mit den gewohnten Produktionsverhältnissen?
UK: Wir müssen uns sicherlich auch mit den Themen beschäftigen, die sogar die AfD aufruft, zum Beispiel Fragen im Zusammenhang mit gescheiterter Integration. Integration ist ein komplexer und schwieriger Vorgang. Wenn man sich die Fälle der sogenannten „Messerstecher“ anschaut, das kann durchaus das Ergebnis von misslungener Integration sein, es kann aber auch viele andere Hintergründe haben, dauerhafte Demütigung beispielsweise, Versagen oder Lust an Gewalt. Wir müssen auf der Komplexität des Geschehens bestehen, wenn wir es deuten. Das Thema, wie auch immer, nur agitatorisch und eindimensional anzupacken, das greift zu kurz in einer Zeit, in der sowieso laufend agitiert wird.
Mit reiner Agitation landet man sowieso meist nur in der eigenen Blase. Aber wir müssen solche Bereiche geöffnet kriegen. Und das geht am besten, wenn man sich, wie vorhin schon erwähnt, auf die lokale Situation einlässt. Man müsste zum Beispiel in Gelsenkirchen, nicht während es NRW-Wahlkampfs nachfragen, wenn die Leute sagen, dass da nichts mehr funktioniert. Warum funktioniert es nicht mehr, was können wir dagegen tun? Das würde ich mit und ohne AfD, die das natürlich instrumentalisiert, machen.
Das Theater sollte immer – theoretisch, denn das schafft es nicht immer – die Tür so weit wie möglich und so einladend wie möglich aufmachen, die Leute durch den Reichtum an Erzählungen hereinlocken.
Wenn wir schon, um in deinem Bild zu bleiben, Passagiere auf dem Pendel sind, so haben wir doch die Möglichkeit zur Sensibilisierung und zur Reflektion. Denn als Passagier reflektiere ich im Grunde, was passiert. Und hierin liegt die Hoffnung, dass die Reflexion in den Besuchern etwas bewirkt, dass man genauer drüber nachdenkt, was gerader passiert.
Die Tendenz, die du beschrieben hast, dass im Rahmen der Zeitenwende alles gefährlicher, riskanter geworden ist, das sehe ich nicht so. Da sind wir noch weit davon entfernt. Andererseits muss sich natürlich die kritische linksliberale Seite fragen lassen, warum werden wir als intellektuelle, sich abschottende Besserverdienende wahrgenommen, die dem Rest der Welt ständig erklärt, wie er sich zu verhalten hat.
Warum werben wir nicht für das, was wir richtig finden, im Theater, durch das, was das Theater am besten kann? Dass man einen „Zerbrochenen Krug“, „Hamlet“ oder „Medea“ so inszenieren kann, dass diese Stücke aktuell sind. Das ist doch das Faszinierende an solchen Werken, dass man die Köpfe mit solchen Geschichten besser erreicht als durch bessewisserische Belehrung.
Theater sollte keine Einbahnstraße sein und keine Erziehungsanstalt, sondern im Grunde ein Labor, ein Reflexions- und Spielraum. Wir haben uns am Deutschen Theater und davor um viele Positionen bemüht. Wir machen seit Jahrzehnten Autoren-Theater, das immer wieder neue Positionen präsentiert.
PC: Dass wir noch weit von solchen Zuständen entfernt sind, wie du sagst, bezweifle ich. Wir sind sicherlich nicht so weit wie die USA unter Trump, wo der Präsident mit ein paar Dekreten hoch renommierte Universitäten und wichtige Kultureinrichtungen wie die Smithsonian Institution in die Knie zu zwingen scheint.
Aber auch in einigen europäischen Ländern weht schon länger ein anderer politischer Wind, und das hat durchaus Einfluss auf den Kulturbetrieb. Ein Blick nach Polen zum Beispiel zeigt, wie dort versucht wird, die Kultur im Sinne der PiS-Partei neu auszurichten.
Wir haben schon angesprochen, dass Vertreter der AfD inzwischen in zahlreichen Ausschüssen und Aufsichtsräten sitzen. Die werden Forderungen stellen, bzw. sie stellen sie schon. Und es wird von der Seite auch offen über das Streichen von Zuschüssen geredet.
UK: Ja, da ist sicher etwas dran, und ich würde es zurücknehmen oder relativieren, dass wir noch weit davon entfernt sind. Das ist vielleicht auch eine Art Trotz von mir, etwas nicht sehen zu wollen. Aber es darf in keinem Fall zu einer Schutzbehauptung werden dafür, jetzt gar nichts mehr zu riskieren. Wir dürfen uns auf keinen Fall bevormunden lassen oder mut- und kraftlos werden.
Da gab es die Frage, ob man Leute an sein Haus einladen oder verpflichten darf, die die BDS-Bewegung befürworten. Das Thema BDS – Boykott, Desinvestitionen, Sanktionen gegen Israel – wurde unter dem aktuellen Druck, der seit dem 7. Oktober entstanden ist, wahnsinnig verkürzt diskutiert. Ich habe mich, obwohl ich nicht die Haltung dieser Bewegung teile, dazu entschlossen, eine Stellungnahme mit zu unterschreiben, dass wir als Leitungspersonen in Kunst und Wissenschaft diese Entscheidungen selber treffen müssen und nicht vom Staat diktiert bekommen wollen. Und schon bekommt man einen Stempel verpasst, weil man nun sozusagen mit einer bestimmten Gruppe unterwegs ist. Letztlich geht es aber um die Freiheit der Kunst, und es kann nicht sein, dass der Bundestag uns vorschreibt, wen wir einladen dürfen und wen nicht. Die Freiheit der Kunst muss sich gerade in schwierigen Zeiten bewähren. Das ist für mich eine grundsätzliche Frage demokratischer Errungenschaft.
Aber ich gebe Dir insofern recht, dass ich auch schon Situationen erlebt habe, wo man persönlich unter Druck gerät und sich Gedanken macht, wie man sich insbesondere kommunikativ verhalten soll.
Ich hatte im Zusammenhang mit der BDS-Petition ein Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung geführt, und da ging es nicht um künstlerische Aspekte meiner Arbeit, sondern wie ich zur Weltoffenheit stehe. Das Gespräch wurde sehr reflektiert geführt und ist auch von der Zeitung so reflektiert verarbeitet worden, dass es das Thema sachlich behandelt und nicht weiter aufgeputscht hat. Letzteres hätte aber passieren können, man hätte es so darstellen können, dass man mit mir einen Vertreter des Antisemitismus zum Intendanten gemacht habe. Das bin ich natürlich nicht, und das wurde in dem Beitrag in der Zeitung auch sichtbar.
Aber wir leben in Zeiten, in denen man sehr schnell abgestempelt werden kann. Das Verhalten gegenüber Omri Boehm ist schon ein bezeichnendes Beispiel dafür. Ich finde es nicht in Ordnung, dass man einen solchen wichtigen deutsch-israelischen Autor und Philosophen gar nicht mehr reden lassen möchte, weil einem dessen Position bzw. Haltung zur aktuellen israelischen Regierung unangenehm ist.
Dem, was du über Amerika gesagt hast, stimme ich zu. Das sind schwer erträgliche Zustände. Ich möchte aber auch noch einmal feststellen, dass auch einige Künstler sich nicht bemühen, ihre Kunst, sagen wir mal, gut zu vermitteln und zu begleiten. Es genügt nicht, wenn man bestimmte Haltungen und Einstellungen einfach nur setzt.
Das ist auch im Theater so. Manche große und berühmte Künstler können sich das leisten, weil sie einfach eine bestimmte, allseits bekannte Position repräsentieren. Die können sich hinstellen, und wenn’s einen Krach gibt, dann sind sie anschließend noch berühmter. Das ist aber nicht jedem so gegeben. Das Gros der Theatermacher muss sich auf die Leute im konkreten Umfeld zubewegen und sich mit ihnen auseinandersetzen.
Dabei muss ich als Theaterleiter nicht die Mentalität eines Allesverstehers entwickeln. Ich muss nicht den letzten Vertreter von AfD-Positionen auch noch verstehen wollen. Im Gegenteil: Ich bin dafür, und das war auch die Haltung in meiner Zeit als Präsident des Bühnenvereins, dass man sich gegenüber der AfD klar abgrenzt. Aber den Unsicherheiten und der Unzufriedenheit in der Gesellschaft – im Moment sagen ja laut Umfragen in Deutschland rund 90%, dass es ihnen besser geht als früher, aber rund 70% sind skeptisch, was die Zukunft bringt – dieser Skepsis nachzugehen, das sollten wir auf jeden Fall.
Wenn man sich diese allgemeine Skepsis und Unzufriedenheit anschaut, dann muss man als Bürger dieses Landes schon sagen, sie sollen mit dem angekündigten „Herbst der Reformen“ so langsam beginnen und nicht alles gleich wieder in irgendwelche Gremien auslagern. Die Notwendigkeit zu handeln ist im Moment groß. Und das ist übrigens auch wieder ein Punkt, wo wir im Kulturbetrieb etwas dazu beitragen können, dass die Fähigkeit zu gemeinschaftlichem Handeln in der Gesellschaft wieder wächst.
Aus dem Grund halte ich es auch für nicht gut, einen Teil der Gesellschaft zu stigmatisieren, und sagt, die will ich schon gar nicht bei mir im Theater haben, das sind alles Nazis. Der Umgang mit dieser Klientel ist allerdings viel komplizierter als mit den Personen, mit denen man sich sozusagen auf einer Wellenlänge befindet. Wir müssen uns dieser Kompliziertheit, die mit den vielfältigen Erfahrungen jedes Einzelnen im Publikum zu tun haben, aber stellen.
Theater ist ein Ort, wo man mit Erfahrungen in der Gesellschaft umgehen kann, wo man Erfahrungen gestalten und Sehnsüchte, wie es anders sein könnte, entwickeln kann, etwas, das wiederum hilft, die Gesellschaft mitgestalten zu können.
Es gibt wohl auch im Theaterbereich oder Kulturbereich so eine Art Zeitenwende, in dem Sinne, dass wir uns unserer Möglichkeiten besser bewusst werden müssen. Ein Unterschied ist auch, dass man früher Freiheiten als selbstverständlich genommen hat. Auch, was die finanzielle Seite anbelangt. Wenn jetzt viele Kommunen als Träger von Theatern vor großen Haushaltsengpässen stehen, dann müssen wir noch engagierter und mit vielfältigen Argumenten um den Erhalt der Stadttheater und einer starken Freien Szene kämpfen und gleichzeitig ein Bewusstsein für die Finanznot der Gemeinden entwickeln.
PC: Die öffentlichen Finanzen sind in der Tat aktuell ein großes Problem. Wird denn nicht dadurch auch der politische Raum deutlich enger? Weil es keine finanziellen Spielräume mehr gibt, kann die Kulturpolitik eben nicht mehr wie früher ausweichen und den politischen Druck in neue Bereiche und Projekte umleiten, so wie man zum Beispiel früher neben die etablierte Kulturszene die soziokulturelle Szene setzen konnte. Das Stichwort „Freiwilligkeitsleistungen“ wird gerne dann genannt, wenn bei den Haushaltsberatungen der Rotstift rausgezogen wird.
UK: So gesehen werden die politischen oder zivilgesellschaftlichen Räume tatsächlich enger. Es sind in den letzten Jahren so viele Dinge geschehen, von denen wir davor keine Vorstellungskraft hatten, von der Pandemie bis zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, zuletzt die Wahl Trumps, und die um sich greifende Sehnsucht nach autoritären und diktatorischen Systemen. Alles Ereignisse oder Phänomene, die so schnell nicht wieder verschwinden werde. Es fehlte uns die Fantasie dafür, dass solche Entwicklungen je möglich wären. Wir waren auf eine bestimmte, naive Art viel zu optimistisch, was universelle Werte und eine weltweite Fortschrittsgläubigkeit anbelangt.
Ich kann aber auf Optimismus und Hoffnung nicht verzichten, denn nur diese Haltung macht mich handlungsfähig. Nicht in dem Sinne, dass schon alles gut gehen wird, sondern weil ich nicht in Lethargie, Passivität, Pessimismus oder Schwermut verfallen will.
Was die finanziellen Engpässe angeht, so hat es in den zurückliegenden 45 Jahren, in denen ich Theater gemacht habe, immer Wellen gegeben, wo es finanziell eng wurde und in solchen Phasen wurden auch Theater bzw. Kulturbetriebe allgemein infrage gestellt. Die Theater haben aber die bisherigen Krisen meist gut überstanden, sie haben sich in der Krise bewährt, haben dagegen gekämpft. Es gab nur sehr wenige Schließungen in den letzten 40 Jahren, und es gab ein paar Fusionen, die mehr oder weniger funktioniert haben. Aber nach der Schließung des Berliner Schillertheaters 1993 gab es keine gravierenden Abwicklungen von Theatern und Opernhäusern mehr.
Eine Entwicklung wie in Polen oder Ungarn zum Beispiel kann ich mir in Deutschland nicht vorstellen. Deutschland ist sehr empfindlich, wenn es um die Freiheit der Kunst geht. Es gibt ein sehr starkes Lernen aus der Geschichte und eine junge Tradition, dass künstlerische Freiheit geschätzt und geschützt wird, und auch entsprechende Gerichtsentscheide.
Ohne Zweifel aber ist der Finanzhebel, der nun an manchen Orten angesetzt wird, eine Gefahr. Da kommt es nun sehr auf die Geschicklichkeit vor Ort an, wie man seine Räume als Theater schützt. Das geht nur, wenn man mit der lokalen Politik, der Bevölkerung und den Medien kommuniziert und sie hinter sich bringt. Und es gibt ohne Frage inzwischen auch Regionen bei uns, zum Beispiel in Sachsen-Anhalt, wo die AfD so viel Macht gewinnen könnte, dass sie großen Einfluss auf die Freiheit der Theater bekommt.
Wenn man insgesamt auf die Geschichte des Theaters zurückblickt, so gab es ständig Zeiten der nach innen und nach außen gerichteten Spannung. Darauf hat das Theater, haben die Autoren und Autorinnen reagiert, haben den spannungsgeladenen Tendenzen etwas entgegengehalten.
PC: Die politische Rechte will die Kultur nicht abschaffen. Im Gegenteil: sie arbeitet daran, die Kultur für ihre Zwecke einzusetzen bzw. umzufunktionieren. Bestimmte historische und kulturelle Narrative – man kann das vor allem in Russland sehr deutlich sehen, aber auch in den USA und einigen östlichen EU-Ländern – sollen neu justiert oder umgeschrieben werden, insbesondere, um sich von anderen Nationen abzusetzen und das Gefühl für die eigene Nation zu heben. Universelle Werte werden dabei diskreditiert.
Dann ist da auch die wachsende Konfrontation zwischen den liberalen bzw. säkularen Gesellschaften des Westens und den islamisch bis islamistisch geprägten Gesellschaften im Nahen Osten, die sich auf die Bemühungen um Integration von Flüchtlingen bei uns auswirkt.
Insbesondere die historischen Museen und Gedenkstätten, aber auch die öffentlich getragene Theaterszene sind in diesen Ländern durch diese Bestrebungen erheblich unter Druck geraten.
UK: Was die Idee des Nationalstaats und die Globalisierung auf der anderen Seite anbelangt, da hat man gedacht, wir wären weiter. Doch jetzt kommt das wieder zurück. Auch der Brexit war zum Beispiel ein sehr bitterer Ein- und Rückschritt. Und wir sehen auch, wie Putin und Trump, jeder auf seine Weise, die EU aufs Korn nehmen. Diese Re-Nationalisierung, das wird sicherlich eine der Baustellen sein, an denen die Theater in Zukunft arbeiten müssen.
Wir müssen auch zeigen, dass Kulturen immer voneinander profitierten, Teil voneinander sind und sich nicht nur abgrenzten. Es gibt überhaupt keine ‚reinen’ Kulturen. Das ist ein Erfahrungsschatz, der auch in der wechselseitigen Beziehung zwischen Islam und Christentum liegt. Es gibt so viele gemeinsame, sich gegenseitig durchdringende Werte, Barmherzigkeit beispielsweise, dass das alles auch in der Zukunft noch tragen könnte.
Es geht darum, dass wir nicht den nationalistischen Fantasien von Leuten wie Putin oder Trump, von „America first“ oder „Russia first“ folgen müssen.
Wir Deutschen haben die negative Erfahrung gemacht, wie man mit solchen Fantasien der Konfrontation, der kulturellen Abgrenzung und der Kultivierung der eigenen vermeintlichen Überlegenheit die Welt in einen globalen Krieg stürzen kann, wie ein Volk zu Tätern und zu Mitläufern bei der Massenvernichtung wurde. Es ist wichtig, dass wir an dem anderen Strang der Verständigung über kulturelle Grenzen hinweg arbeiten, ein Strang, der sich literarisch und theatergeschichtlich abbilden lässt von der Antike bis heute.
Aber nochmal zurück zum Thema der konkreten Erfahrungen. Das Theater hat schon immer, seit der Antike, danach gefragt, wer der Träger des tragischen Geschehens ist. Im klassischen Sinne bedeutet das Tragische schon das Sichunterlegenfühlen, das Gefühl von Schwäche. Oder wie Erich Fromm sagte: „Die biologische Schwäche des Menschen ist die Voraussetzung menschlicher Kultur.“ Wir sind ‚Defektflüchtler‘.
Und ich sehe auch, dass zum Beispiel ein wichtiges religiöses Deutungsmuster, des Christentums wie des Islams, nämlich die Schwäche des einzelnen Menschen, verblasst, auch innerhalb der Religionen, dass dadurch die darauf basierenden Wertesysteme zurücktreten, und das sich selbst isolierende Individuum, der Homo clausus und sein Ego im Vordergrund stehen.
Es sind dann die Entwicklungen bis hin zu modernen ‚Helden’ wie Büchners Woyzeck, oder den Figuren bei Gerhart Hauptmann und später bei Brecht, an denen man ablesen kann, wie das Theater versucht, das Tragische im Sinne des Unterlegenseins des Einzelnen oder der Schwäche des Menschen an sich in seiner jeweiligen Zeit zu bestimmen. Das steht diesen Ideen und Konzepten des sich stark oder überlegen Fühlens in meiner Gruppe, meiner Gemeinschaft, meinem Clan oder meiner Nation entgegen.
PC: Vielleicht müssen wir auch erkennen, dass die von dir angeführten Wertesysteme Ausdruck einer unipolar verstandenen Welt sind, dass aber verschiedene Teile der Welt, aus unterschiedlichen Gründen, diesen Wertesystemen nicht mehr folgen wollen.
Neulich trafen sich in China die Staatschefs der Gruppe SOZ, was für „Schanghai Organisation für Zusammenarbeit“, bisher eigentlich nur ein loser Staatenverbund, steht. Auf dem Gruppenfoto von diesem Treffen sieht man brav nebeneinander die Diktatoren Putin, Xi Jinping, Lukaschenko und Kim Jong Un sowie die Präsidenten des – immer noch – demokratischen Indiens, der islamischen Republik Iran und einiger autokratisch geführter zentralasiatischer Staaten.
Zentrale Botschaften des Treffens waren: Die Schuld am Krieg in der Ukraine trägt der Westen und die NATO, und die Weltordnung darf nicht von Europa und den USA, sprich: dem Westen dominiert werden.
Die Welt soll nach dem Willen der SOZ multipolar sein. Dahinter stehen entsprechende geopolitische Konzepte, denen zufolge insbesondere die Ukraine zum russischen Einflussbereich gehört.
Menschenrechte, wie wir sie verstehen, darunter Grundrechte wie Meinungsfreiheit und Freiheit von Kunst und Wissenschaft, werden offen in Abrede gestellt, ebenso Minderheitenrechte. Autokraten wie Putin unterdrücken die LGQBT-Bewegung, erklären sie zu „ausländischen Agenten“.
Aber auch in einer anderen Region der Welt wendet man sich vom westlichen Wertesystem ab. In Afrika wird inzwischen in über 30 Staaten Homosexualität unter Strafe, teilweise sogar Todesstrafe gestellt.
In den USA ist jemand an die Macht gekommen, der die Verfassung seines Landes aushöhlt und der ganz offensichtlich dem Zerfallen der Welt in verschiedene Einflussgebiete nichts entgegenstellen will, sondern dem es im Gegenteil nur darauf ankommt, dass für ihn, seine Clique und vielleicht auch für sein Land Vorteile bei dieser Neuaufteilung herausspringen.
Ist dieses Abrücken von unseren Wertvorstellungen, man kann auch sagen: dieser Angriff auf sie, nicht eine massive Bedrohung der Rahmenbedingungen der kulturellen Arbeit, für die wir stehen, auch bei uns? Die rechts- und linkspopulistischen Kräfte bei uns zeigen ja deutlich ihre Sympathien für die autokratischen Staatsführungen.
UK: Dieser Beschreibung kann ich mich persönlich anschließen. Aber das sind ja nun wirklich die großen politischen Felder und Bewegungen, an die wir mit unserer Arbeit im Theater nur in Ausnahmefällen herankommen. Wir sollten uns auf unsere Möglichkeiten und unsere theaterspezifischen Fähigkeiten beziehen und versuchen, in unserem direkten Umfeld, in den städtischen Gesellschaften zu wirken. Durchaus auf dem Hintergrund und unter Einbeziehung globaler Entwicklung und Konflikte. Wir könnten uns mit Geopolitik beschäftigen, indem wir als Einzelne und als örtliche Gesellschaft darauf reagieren: Was bedeutet das für uns, wie reagieren wir darauf.
Bis vor wenigen Jahren waren wir der Meinung, Demokratie sei selbstverständlich. Wir hatten im Deutschen Theater vor einigen Jahren die Idee, als Schwerpunkt für eine Spielzeit das Thema ‚Demokratie und Herrschaft‘ zu setzen. Viele reagierten darauf eher gelangweilt und sagten: Was soll das? Demokratie haben wir sowieso. Ist doch selbstverständlich!
Von heute aus gesehen wird klar, dass es eben nicht selbstverständlich ist. Und es wird uns auch klar, dass man auch auf einem abstrakteren Feld etwas beeinflussen kann. Ich neige, wenn es um große politische Fragen geht, wirklich nicht zu einer Überschätzung der Kunst, aber man kann sich am Theater durchaus mit Themen wie dem Erhalt der Demokratiefähigkeit beschäftigen.
Das Gleiche gilt für Europa, ein Thema, das viele noch vor wenigen Jahren für langweilig oder als irrelevant für das Theater empfunden haben. Ich meine, dass es sich lohnt, sich auch im Theater für die Idee eines vereinten Europas einzusetzen. In Europa gibt es starke demokratische Kräfte, für die man kämpfen sollte. Also eben doch eine Zeitenwende, deren Gestaltung wir nicht verpassen sollten.
PC: Herzlichen Dank für das Gespräch!
Das Gespräch fand am 15. September 2025 in Berlin statt.
Foto Ulrich Khuon: Gian Paul Lozza / Schauspielhaus Zürich