Trump statt Roosevelt oder der Verrat an völkerrechtlichen Standards
Wenn es nach Winston Churchill gegangen wäre, so hätte man mit der Nazi-Führung, so sie den Alliierten in die Hände geraten war, kurzen oder gar keinen Prozess gemacht und sie schnellstmöglich exekutiert. Josef Stalin hätte gerne, wie schon einige Jahre zuvor im Fall der polnischen Armee, die Generalität samt weiter Teile des Offizierskorps der Wehrmacht ausgelöscht. Es waren die US-Amerikaner und vor allem der noch amtierende Präsident Roosevelt, die darauf drangen, gegen die Führung Nazi-Deutschlands einen geordneten strafrechtlichen Prozess zu führen. Da die Sowjetführung und auch die Franzosen sich einverstanden erklärten, willigten schlussendlich auch die Briten ein. Was folgte, war ein absolutes Novum in der Weltgeschichte.
Vor 80 Jahren, am 20. November 1945, begann der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Dass Nürnberg als Ort gewählt wurde, hatte praktische und auch symbolische Gründe. Zum einen lag Nürnberg zentral und es fanden sich in der ansonsten schwer zerstörten Stadt noch genügend passende Räume, zum anderen begab man sich aufgrund der Rolle Nürnbergs als sogenannter „Stadt der Reichparteitage“ an einen der zentralen Orte der nationalsozialistischen Bewegung.
Begleitet von zahlreichen Medienvertretern und somit vor den Augen der Weltöffentlichkeit wurden bis zum Oktober 1946 die multiplen, grausamen Verbrechen der Nazis verhandelt. Adolf Hitler, Heinrich Himmler und Joseph Goebbels hatten sich durch Selbstmord ihrer Verantwortung entzogen, nun saßen mit Hermann Göring, Rudolf Heß, Joachim Ribbentrop und Wilhelm Keitel an der Spitze weitere 21 ranghohe NS-Funktionäre und Verantwortliche der Wehrmacht auf der Anklagebank.
Die Anklagepunkte waren:
- „Verbrechen gegen den Frieden“ – bedeutet: das Führen von Angriffskriegen bzw. eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge
- „Begehung von Kriegsverbrechen“ – bedeutet: Misshandlungen an und Ermordung von gefangenen Kombattanten (Angehörige gegnerischer Streitkräfte)
- „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – bedeutet: Verbrechen an der Zivilbevölkerung bzw. deren Verfolgung aus politischen, rassistischen oder religiösen Gründen
Das Verfahren stand auf wackeligen Beinen, denn ein Großteil der völkerrechtlichen Normen, die in dem Prozess zur Anwendung kommen sollten, waren nur ansatzweise entwickelt, vor allem waren sie so noch nirgendwo zur Grundlage gemacht worden. Zudem und streng genommen wurde gegen den juristischen Grundsatz „Nulla poena sine lege“ = „Keine Strafe ohne (bestehendes) Gesetz“ verstoßen, ein Mangel, der nicht nur von den Verteidigern der Angeklagten, sondern auch von manch neutralem Beobachter ins Feld geführt wurde. Das Verfahren wurde dadurch nicht aufgehalten.
Umgekehrt gesehen gelten die Nürnberger Prozesse – neben dem Prozess gegen die Hauptverantwortlichen gab es anschließend noch einige Nachfolgeprozesse gegen Vertreter aus Verwaltung, Wirtschaft und anderen zivilen Bereichen – als die Bühne, welche den Normen des bis zu diesem Zeitpunkt eher akademisch kursierenden und lediglich durch ein unkoordiniertes System internationaler Verträge abgestützten Völkerrechts zum Durchbruch verhalfen.
Mit den Nürnberger Prozessen wurde ein völkerrechtlicher Maßstab entwickelt, der im Fortgang der Geschichte immer wieder herangezogen wurde, wenn kriegerische Handlungen – wie zuletzt bei der militärischen Auseinandersetzung Israels mit dem Terror der Hamas – aus dem Ruder zu laufen begannen.
Wichtig aus Sicht der Alliierten, vor allem der US-Amerikaner, war auch der „erzieherische“ Effekt: die nationalistisch verblendeten Deutschen sollten erkennen, welchen irrationalen Verführungen sie erlegen waren, welche Verbrechen sie begangen oder denen sie zumindest Vorschub gegeben hatten. Und ihnen sollten die Werte einer freiheitlichen Demokratie vor Augen geführt werden.
Eine wichtige Konsequenz der Nürnberger Prozesse ist auch die 2002 erfolgte Gründung des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag. 125 Staaten gehören ihm mittlerweile an. Einige autokratisch geführte Staaten, vor allem in Afrika und Asien, sind von vorneherein diesem Kreis ferngeblieben, einige wiederum haben die zum Beitritt notwendige Unterschrift unter das sogenannte „Rom-Statut“ wieder zurückgezogen. Es sind: Israel, Russland, Sudan und die USA.
Damit unterwerfen sich mit Russland und die USA genau die beiden Länder nicht der internationalen Gerichtsbarkeit und somit den seit 1945 entwickelten Normen des Völkerrechts, die sich – wie wir in den letzten Tagen erfahren haben – daran machen, die Machtkonstellationen in Europa neu festzulegen.
Was die inzwischen in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Bedingungen eines „Friedensabkommens“ bezüglich der Ukraine deutlich machen: Ausgerechnet die US-Amerikaner, die das Völkerrecht mit den Nürnberger Prozessen entscheidend vorangebracht haben, gehen daran, über die Köpfe der betroffenen Bevölkerung der Ukraine und völlig an den europäischen Staaten vorbei mit dem Aggressor Russland einen „Deal“ zu machen, der genau dieses Völkerrecht samt allen dieses Recht konstituierenden moralischen Werten in den Orkus befördern.
Dass das Putin-Regime sich in Bezug auf alle drei der oben genannten Anklagepunkte schuldig gemacht hat, spielt für das Trump-Regime keine Rolle. Als da wären:
- „Verbrechen gegen den Frieden“ – Russland führt mindestens seit 2022 einen ungerechtfertigten Angriffskrieg gegen die Ukraine und verstößt allgemein gegen internationale Verträge und im Besonderen gegen das Minsker Abkommen (womit allerdings klar belegt wurde, um was für einen schwaches Vertragswerk es sich hierbei handelt)
- „Begehung von Kriegsverbrechen“ – gefangen genommene ukrainische Soldaten werden systematisch körperlicher und psychischer Folter ausgesetzt
- „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ – die zahlreichen Massaker an der Zivilbevölkerung wie zum Beispiel in Butscha, die Entführung tausender Kinder, der fortwährende Terror durch Beschuss ziviler Gebiete mit Drohnen und Raketen
Mehr noch: Der Aggressor soll dafür belohnt werden, indem der Angegriffene nicht nur einen erheblichen Teil seines Staatsgebietes verlieren, sondern auch noch wichtige Elemente seiner souveränen Rechte, wie zum Beispiel die Möglichkeit zur Mitgliedschaft in der NATO und die Ausgestaltung seines Militärs, aufgeben soll.
Das ist nicht weniger als der größtmögliche Verrat an den völkerrechtlichen Standards, begangen durch eine US-Regierung, die ganz offensichtlich und aus purem Eigeninteresse Sympathien hegt für die imperialistischen Machenschaften Russlands.
Wer offen damit droht, Grönland militärisch zu erobern, wer seinen nordamerikanischen Nachbarn Canada gerne als „51. Bundesstaat“ eingliedern will, wer sich daran macht, Flugzeugträger und U-Boote vor den Küsten Lateinamerikas aufzufahren, um vorgeblich den Drogenschmuggel zu bekämpfen, dem mag es auch gefallen, wenn die euroasiatische Großmacht Russland sich von Finnland bis zum Schwarzen Meer die kleineren Staaten einverleibt oder zu Satellitenstaaten zurechtstutzt.
Dass die für die Nürnberger Prozesse noch so wichtigen demokratischen Werte dabei mit unter die Räder kommen, spielt für Trump und seine Clique, wie allein schon der Umgang mit dem politischen Gegner im eigenen Land nahezu täglich zeigt, grundsätzlich keine Rolle.
Abbildung: Blick auf die Angeklagten auf der Anklagebank beim Prozess gegen Kriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg, Bayern, Deutschland.
Autor: Raymond D’Addario