(All)täglicher Faschismus

Peter Conzelmann

In Konstanz wurde am 29. August 2025 mit einer Gedenkveranstaltung an Martin Katschker erinnert. Am gleichen Tag vor 55 Jahren, am 29. August 1970, wurde der damals 17jährige Lehrling Opfer eines Anschlags durch den Hilfsarbeiter Hans Obser. Bewaffnet mit einem sogenannten „Hasentöter“, einem Bolzenschussgerät, hatte dieser sich auf den Weg zum Blätzleplatz in der Stadtmitte gemacht. Dort hatten sich seit einigen Tagen junge Leute getroffen, die in der Öffentlichkeit als „Gammler“ und „Hippies“ diskreditiert wurden. Darunter verstanden brave Bürgerinnen und Bürger im Allgemeinen „arbeitsscheues Gesindel“, das man in der idyllischen Stadt am See nicht haben und nicht sehen wollte. Die Stimmung in der Stadt war aufgeheizt. Der Schuss aus dem Hasentöter traf Martin Katschker ins Herz.

Einer, der sich bei der Stimmungsmache besonders lautstark hervortat, war der politische Rechtsaußen und spätere Stadtrat Walter Eyermann. Dieser hatte sich, wie die Online-Wochenzeitung „Kontext“ festhält, in einer Sitzung des Bürgerausschusses angeboten, selbst für Ordnung sorgen zu wollen, „zu der ich“, wie er kundtat, „mit Sicherheit mehr als vierzig Bürger dieser Stadt finde, die sich daran beteiligen“. Der damalige Konstanzer OB Helmle habe entgegnet: „Wenn Sie das machen, Herr Eyermann, bin ich einverstanden“.

Das Konstanzer Online-Magazin Seemoz hat der Geschichte und ihren Hintergründen, einem Exempel des alltäglichen Faschismus in der noch relativ jungen Bundesrepublik, einen längeren Beitrag gewidmet.

Im gleichen Jahr, nur wenige Wochen vor dem 29. August, ereignete sich in den USA ein noch größeres blutiges Ereignis, das als „Kent-State-Massacre“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Am 4. Mai 1970 wurden an der Kent State University vier Studenten erschossen und neun teils schwer verletzt, als die Nationalgarde des Staates Ohio während einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg das Feuer auf die Menge unbewaffneter Demonstranten eröffnete.

Ausgelöst wurden die Proteste durch die am 25. April 1970 gestartete US-amerikanische Invasion Kambodschas. Der damals amtierende Präsident Nixon brach damit ein Versprechen, denn im Wahlkampf hatte er einen „anständigen Frieden“ bzw. eine Beendigung des Vietnamkrieges angekündigt. Nun sollten durch den völkerrechtswidrigen Angriff auf Kambodscha dort verborgene Vietcong-Kämpfer getötet werden.

Aus Sicht des Bürgermeisters von Kent drohte die Lage am Ort außer Kontrolle zu geraten. Er erklärte den Ausnahmezustand und forderte zur Unterstützung der Polizei ein Kontingent der Nationalgarde an. Der Einsatz zog sich über mehrere Tage hin. Am 4. Mai versuchte die Nationalgarde erfolglos, eine nicht genehmigte Protestkundgebung mit Tränengas aufzulösen. Darauf zog sich ein Trupp Nationalgardisten auf eine Anhöhe zurück, drehte sich um und eröffnete unvermittelt das Feuer auf die Menge – laut FBI „ohne bedroht oder in Gefahr zu sein“.

Bis heute wurde niemand dafür zur Verantwortung gezogen.

Das Kent-State-Massacre ist einer der Hintergründe, die den deutsch-amerikanischen Schriftsteller Reinhard Lettau (1929-1996) zu seinen tagebuchartigen Aufzeichnungen aus dem Jahr 1970 motivierten, die 1971 unter dem Titel „Täglicher Faschismus – amerikanische Evidenz aus 6 Monaten“ beim Rowohlt Verlag veröffentlicht wurden. Als Material dienten Lettau Zeitungsausschnitte. Seine zentrale Frage war, wie eine Bevölkerung so passiv Polizeiübergriffen, Justizwillkür, täglicher Gewalt und Rassismus gegenüberstehen kann.

In der protokollarisches Darstellung Lettaus wird erkennbar, wie das Massaker in den US-Medien verharmlost oder als Herstellung der „notwendige(n) Ordnung“ gerechtfertigt wurde, Teil eines „institutionalisierten Terror(s)“, der als normaler Verwaltungsakt dargestellt wurde.

Trumpamerika ist bezüglich des Einsatzes der Nationalgarde, den der Präsident für verschiedene Großstädte der USA – in diesen Fällen gegen den ausdrücklichen Willen der meist demokratischen Bürgermeister – angeordnet hat, somit nicht ohne ungute Vorgeschichte. Inzwischen sollen die Truppen auf Geheiß Trumps auch bewaffnet vorgehen.

Reinhard Lettaus Buch hat nichts von seiner Brisanz verloren. Es kann zurzeit nur antiquarisch erworben werden.


Tödliche Hetze gegen Hippies, Kontext:Wochenzeitung vom 26.08.2020, https://www.kontextwochenzeitung.de/zeitgeschehen/491/toedliche-hetze-gegen-hippies-6956.html

Der Mord an Martin Katschker am Konstanzer Blätzlebrunnen jährt sich zum 55. Mal, Seemoz vom 25.08.2025, https://www.seemoz.de/der-mord-an-martin-katschker-am-konstanzer-blaetzlebrunnen-jaehrt-sich-zum-55-mal/

Abbildung: Allison Krause, Opfer der Schießereien an der Kent State University. Wie im „Akron Beacon Journal“ vom 5. Mai 1970 dargestellt – Quelle: Wikimedia Commons

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