Stadtbild war immer

Peter Conzelmann

Unser munter drauf los schwadronierender Kanzler sorgt zuverlässig für eine lebhafte Debattenkultur hierzulande. Das neueste Scheit, das er ins offene Feuer der Diskurse geworfen hat, lautet „Stadtbild“. Kaum ein/e politische/r Stakeholder/in, kaum einer der zahllosen Kommentator/innen, der bzw. die sich in den letzten Tagen zurückhalten konnte, die vage Metapher mit spitzen Fingern anzufassen, kein Medium, kein Forum ohne lebhafte Auseinandersetzung darüber, ober er nun recht oder nicht recht oder eventuell doch, aber nur ein bisschen recht hat, ob er nun zu Hass und Hetze beiträgt oder nur sagt, was ist. Rassist, so die einen, Realist, so die anderen.

Interessant auch zu verfolgen, wer sich hüben wie drüben der politischen Lager nun in welchen Harnisch wirft, ihn vehement verteidigt oder ihn frontal angreift. Naturgemäß steigt dabei auch wieder die Temperatur im Koalitions-Reaktor, so dass man sich ernsthaft fragen muss, ob bzw. wie lange dieses Bündnis aus Schwarz und Rot noch hält. Vielleicht hilft ja der ins Auge gefasste „Stadtbild-Gipfel“ im Kanzleramt.

„Stadtbild“ meint dem Wortsinn nach zunächst die rein äußere, ästhetische Erscheinung einer Stadt, ihre Topographie, ihre Architektur, die Gestalt ihrer Straßen und Plätze. Ist sie (sehr) alt oder (sehr) neu, gibt es eine enge und verwinkelte Altstadt oder ist sie modern angelegt und von breiten Avenuen durchzogen? Ist sie autogerecht oder passiert man sie bequem zu Fuß? Welche markanten Bauwerke hat bzw. symbolisieren sie? Erst in zweiter Hinsicht wird mit „Stadtbild“ auch das soziale Gefüge gemeint, bezieht es sich auf die Formen des öffentlichen Lebens darin.

Was das Letztere anbelangt: Nie waren die Städte in der Geschichte eine Lebensform, in welcher die dort lebenden Menschen in Freiheit, Frieden und Toleranz konfliktlos nebeneinander her lebten. Die Geschichte der Städte ist von jeher eine Geschichte des sozialen Drucks, der Disziplinierung und der Gewalt.

Hier nur ein kleiner Gang durch unsere europäische Geschichte.

„Stadtluft macht frei“ hieß es seit dem Mittelalter. Richtig! Schaut man auf die feudalen Verhältnisse auf dem flachen Land, so lebten die Menschen vielfach in einer der Sklaverei ähnlichen Abhängigkeit zu ihrer Obrigkeit, genannt Leibeigenschaft, schwer belastet durch allerlei Abgaben und Frondienste. Die Möglichkeit, Bürger/in einer Stadt zu werden, versprach tatsächlich die Befreiung von diesen bedrückenden Lebensumständen, doch musste man sich – so man über wenig oder gar keine Geldmittel verfügte – in einer Stadt ganz unten einreihen und unterlag auch dort vielerlei Auflagen und Regeln, stand unter der Observanz der Kirche und der die städtischen Geschicke lenkenden Patrizier.

Außerdem: Wer dem Zugriff seines Feudalherren durch den Zuzug in die Stadt entfliehen konnte, so gesehen also ein Flüchtling war, der musste in Angst leben, dass sich der Feudalherr seinen Leibeigenen zurückzuholen trachtete. Erst „nach Jahr und Tag“, wie es manches Stadtrecht formulierte, war man diese Gefahr los und durfte endgültig bleiben. Manche schafften so den Einstieg in ein bürgerliches oder kleinbürgerliches Leben. Viele hingegen scheiterten und bildeten so den Bodensatz der städtischen Gesellschaften.

Mit dem Entstehen der Städte und mit den dort Gescheiterten kam das Problem der Armen und der am Existenzminimum dahinvegetierenden Tagelöhner, und es kam das Problem der Bettler, Menschen, die nichts hatten und deren Arbeitskraft zu nichts ausreichte. Teils wurden sie in den Städten geduldet und mit Almosen versorgt, teils wurden sie zum öffentlichen Ärgernis, das die Stadtregime mit großer Härte einzudämmen suchten.

Ab dem späten 18. Jahrhundert und vor allem dem 19. Jahrhundert erfolgte ein immenser Wachstumsschub der Städte. Es war eine Folge der beginnenden und immer mächtiger die Verhältnisse umwandelnden Industrialisierung, gepaart mit einer immer weiteren Verarmung der Landbevölkerung. Mit dem Zustrom vieler Entwurzelter aus dem Umland wurde das Problem der Bettler und auch der Kriminellen immer gravierender. Hinzu kamen kranke und hilflose Menschen, die nicht mehr, wie auf dem Dorf, von einer über Generationen gewachsenen Gemeinschaft aufgefangen wurden. In den Städten bildeten sich Elendsquartiere, aufgrund mangelhafter Hygiene übelriechend und eine Gefahr im Hinblick auf Seuchen, an denen sich die oberen Klassen störten und die sie um ihre Sicherheit fürchten ließen.

Ernst Köhler hat sich in seiner Studie „Arme und Irre“ eingehend mit diesem Thema beschäftigt. Er untersucht dort die Entwicklung der Fürsorge für die „Armen“ und „Irren“ im 19. Jahrhundert in Deutschland und zeigt, wie die liberale Bürgertums-Fürsorgepolitik nicht nur soziale Hilfe war, sondern zugleich Elemente der Disziplinierung, Normierung und Stabilisierung des Gesellschafts- und Wirtschaftssystems enthielt. Ein besonderes Fallbeispiel ist die Stadt Hamburg.

Eine Heerschar von Stadtplanern und -entwicklern – ob politisch eher links/progressiv oder eher rechts/konservativ orientiert – hat sich bis tief hinein ins 20.Jahrhundert darüber Gedanken gemacht, wie man die „Massen“ in den städtischen Quartieren unterbringen kann, so dass es nicht zu den unangenehmen Begleiterscheinungen, vor allem zu keiner Slum-Bildung und zu keinen No-go-Areas kommt. Bewegungen wie das Weimarer bzw. Dessauer Bauhaus sind ohne diesen Hintergrund nicht denkbar. Städte wurden vielfach – wie bei dem französischen Architekten Le Corbusier – als maschinenähnliches Gebilde, Hochhäuser als „Maschine zum Wohnen“ gedacht, in deren bestens getaktetem Räderwerk die Bewohner/innen eingespannt werden.

Gegen diese Vorstellungen, an denen sich auch antidemokratische Futuristen und Faschisten berauschen konnten, formierte sich sehr bald Widerstand, sei es in Form einer künstlerischen Boheme, die Städte als vielfach schillerndes, ästhetisches Tableau sehen und erlebbar machen wollten, sei es durch immer weiter sich entfaltende Subkulturen, die in den Städten Freiheit auf ihre je eigene Art suchten, sei es aufgrund Lage der unteren Klassen der Arbeiterschaft, deren Leben in Mietskasernen und „Neue Heimat“-Blöcken eher trist war, sei es, dass sich Armut und Kriminalität letztlich doch nicht endgültig durch den technokratischen und sozialingenieurhaften Zugriff aus den urbanen Zonen vertreiben ließen und soziale Perspektivlosigkeit zu Wut und Destruktion führten.

Städte waren, sind und bleiben ein Ort der Vielfalt und der Disparität, Orte, an denen die sozialen Verwerfungen einer Gesellschaft am schnellsten und am deutlichsten erkennbar sind. In liberalen Gesellschaften reagiert das wohl bestallte Bürgertum auf das, was sich seinem auf Ordnung und Sauberkeit achtenden Auge bietet, in der Regel mit einer Mischung aus Unverständnis, Verunsicherung, Angst, Ver- und Missachtung einerseits, einem karitativen Wunsch zu besserer Hilfe und Fürsorge für die „Unterprivilegierten“ andererseits.

Der Fall des Lehrlings Martin Katschker, an dessen Ermordung in Konstanz vor Kurzem gedacht wurde, ist ein krasses Beispiel, wie im Hinblick auf das „Stadtbild“ die Balance zwischen diesen beiden Haltungen erst in Schieflage und dann ins Rutschen kommen kann: Die Stimmung im Bürgertum wurde solange angeheizt, bis ein sozial Depravierter sich ermuntert fühlte, zur Selbsthilfe gegen die „Gammler“ oder „Hippies“ schreiten zu müssen.

Bemerkenswert ist, dass allein die emblematische Szene eines jungen Mannes mit etwas längeren Haaren, als es die damalige bürgerliche Norm vorsah, der es sich erlaubte, zusammen mit anderen lässig auf der Lehne einer Bank zu sitzen, genügte, dass die (ästhetische) Vorstellung eines sauberen Stadtbilds so ins Wanken kam, um einen tödlichen Schuss auszulösen. Anderswo reicht ein aggressives Graffiti, herumliegender Müll, zu viel Leerstand in den Innenstädten, gar ein Gruppe herumstehender, dunkelhäutiger Männer, dass manche Zeitgenoss/innen sich diffus beklommen fühlen.

So gesehen war und ist „Stadtbild“ immer. Es mag legitim sein, in politischen Kontexten auf das Stadtbild zu verweisen, vor allem aber ist es sehr billig, wenn man auf den äußeren Schein zielt, aber soziale Probleme ansprechen will. Gelöst wird keines davon.


Ernst Köhler, Arme und Irre. Die liberale Fürsorgepolitik des Bürgertums. Wagenbach, Berlin 1977, ISBN 3-8031-1079-3

Holger Reile: Tödliche Hetze gegen Hippies, Kontext: Wochenzeitung vom 26.08.2020

PM: Der Mord an Martin Katschker am Konstanzer Blätzlebrunnen jährt sich zum 55. Mal, Seemoz vom 25.08.2025


Abbildung: Bettlerin, Guanajuato, Mexiko; © Tomas Castelazo, www.tomascastelazo.com / Wikimedia Commons / CC BY-SA 4.0

  • Christina Herbert-Fischer

    28.10.2025, 19:42

    ja, das liebe Stadtbild! In meiner Kindheit in den Sechzigern war das ja auch nicht so viel anders, es wurde nur bis heute vergessen. Ich spreche dabei eher nicht von Jugendlichen mit langen Haaren, die gab es freilich auch.
    Ich selber bin im Rhein-Main-Gebiet aufgewachsen. Nach dem Krieg hatten beide Teile Deutschlands zusammen um die 14 Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten aufgenommen. Anfang bis Mitte der Sechziger Jahre waren Teile der Flüchtlinge, denen es schwerer fiel einen angemessenen Platz in der Gesellschaft zu finden, immer noch in den Wellblechbaracken mit den runden Dächern untergebracht. Die Nissenbuden oder der Barackenzores, Orginalton der Einheimischen, verschandelten damals das Stadtbild erheblich. Dazu kamen Stadtteile, ehemalige Laubensiedlungen, z.B. das Mariott-Gelände später Lohwald, am Rande der Stadt, die nicht nur derart verwahrlost waren, dass man sich dort nicht hin getraute. Nun, nicht nur, man wurde bestenfalls mit Steinen beworfen, am hellichten Tag.
    Am frankfurter Bahnhof war die Kriminalität völlig öffentlich, damals eher Alkohol, Spiel und Prostitution, die Heroinsüchtigen kamen erst einige Jahre darauf dazu.
    Also ein Lob auf das Stadtbild zu allen Zeiten! Unsere Gesellschaft kann ohne Migration nicht überleben, genauso, wie der Aufschwung nach dem 2. Weltkrieg ohne die Ostflüchtlinge kaum in dieser Form möglich gewesen wäre, trotz Marschall-Plan. Die Schwächsten jeder Gesellschaft, ob frisch eingewandert oder Heimische, die seit Generationen am Boden liegen, sie werden immer das Stadtbild mitprägen, so lange es nicht gelingt eine sinnvollere Sozial- und Bildungspolitik zu betreiben.

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