Von deutschen Lebenslügen

Peter Conzelmann

Der 9. November ist zu einem wohlinszenierten Gedenktag im Rahmen der deutschen Erinnerungskultur geworden. Routiniert wird an die verschiedenen positiven wie negativen Ereignisse zu diesem Datum erinnert, von der Erschießung des demokratischen Abgeordneten Robert Blum 1848 bis zum Mauerfall von 1989. Die Redenschreiber der zu den Feierstunden aufgebotenen öffentlichen Mandatsträger wissen das historische Geschehen und die daraus zu ziehenden Lehre stets eindrücklich und würdig in Worte zu fassen.

Ganz anders jedoch der Verlauf der Veranstaltung vom 7. November 2024, als Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier aus Anlass des 35. Jahrestags der „Friedlichen Revolution von 1989“ ins Schloss Bellevue lud. Neben einer Ansprache des Bundespräsidenten hielt der Schriftsteller und Journalist Marko Martin eine Rede unter dem Titel

„Von fortgesetzten deutschen Lebenslügen und Verdrängungen – in Ost und West“.

Zu den Gästen in Schloss Bellevue gehörte auch eine polnische Delegation, unter ihnen Bogdan Michał Borusewicz, Grażyna Staniszewska, Bogdan (Jerzy) Lis und Ewa Kulik-Bielińska, Protagonisten der Solidarnosc-Revolution und Mit-Initiatoren des Streiks auf der Danziger Werft. Marko Martin begrüßte sie explizit und mit besonders herzlichen Worten.

Die Rede glich indessen in weiten Teilen einer Abrechnung. Denn Marko Martin sparte nicht mit Kritik an der spezifisch deutschen Entspannungspolitik, insbesondere sozialdemokratischer Prägung (siehe hierzu auch meinen Beitrag „Schmitteinander, Folge 3“ auf diesem Blog) und münzte diese direkt auf den vor ihm sitzenden ehemaligen Außenminister und jetzigen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier. Dieser zeigte sich während und vor allem nach der Rede alles andere als amused.

Auf Youtube kann die komplette Rede samt den Reaktionen des Publikums (inklusive dem Gedaddel auf diversen Smartphones) gehört bzw. betrachtet werden. Nicht zu übersehen ist Steinmeiers versteinerte Miene, sein ostentativ nicht gespendeter Applaus, das nervöse Lippenkauen des neben ihm sitzenden Wolfgang Thierse. Dies und die Tatsache, dass Steinmeier beim anschließenden Get-together seiner Wut über das Gesprochene freien Lauf und am Redner ausließ, belegen, dass der Nerv genau getroffen wurde. Den polnischen Gästen muss es hingegen ganz anders in den Ohren geklungen haben.

Hier die zentralen Passagen aus Marko Martins Rede:

„Fehl jedoch ginge, wer das als „typisch Ost“ missverstehen und damit auslagern würde. Denn es war und ist eine gleichsam doppeldeutsche Geschichte, und was auch im Westen an Widersinn erzählt wurde (und wird), spiegelte seit je her in den Osten zurück. So bezeichnete etwa im Jahr 1982 Egon Bahr in der Zeitschrift ‚Vorwärts‘ Solidarnosc gar als ‚Gefahr für den Weltfrieden‘. Eine wahnwitzige Infamie, welcher der Dichter Peter Rühmkorff, bis heute weithin verehrt als subversiver Feingeist, auf diese Weise sekundierte – in der schroffen Diktion der Nazi-Vätergeneration: ‚Mehr als Arbeit und Disziplin verschreiben kann der polnischen Nation ohnehin kein Mensch auf der Welt – doch wer bringt neben der nötigen Courage auch noch den Mut auf, sie tatsächlich zu verordnen?‘“

(…)

„‘Für unsere und eure Freiheit‘ hieß seit dem 19. Jahrhundert der polnische Aufruf, und er wurde von den Bürgerrechtlern in der DDR verstanden und natürlich vor allem von den Menschen in Osteuropa, 1989 und auch später, 2004 und 2013/14 bei den demokratischen Revolutionen in Kyjiw, mit den Europa-Fahnen in den Händen der Demonstranten. Währenddessen scheint es, dass die als Geo- und Realpolitik kaschierte Verachtung, die einst aus den Worten Egon Bahrs sprach, noch heute fortwirkt.

Schon wird Gerhard Schröder, nach wie vor reuelos großsprecherischer Duzfreund des Massenmörders im Kreml, vom neuen Generalsekretär der Kanzlerpartei garantiert, dass selbst für ihn weiterhin Platz sei in der deutschen Sozialdemokratie. Dies übrigens zum gleichen Entsetzen der Osteuropäer und gestandener Sozialdemokraten, mit dem sie 2016 aus dem Mund des damaligen Außenministers hören mussten, die Nato-Manöver an der Ostflanke, um die dortigen Demokratien zu schützen, seien „Säbelrasseln und Kriegsgeheul“.

Säbelrasseln und Kriegsgeheul? Sehr geehrter Herr Bundespräsident und bei allem Respekt: Auch das Nord-Stream-Projekt, an dem SPD und CDU so elend lange gegen alle fundierte Kritik festhielten, war nur insofern „eine Brücke“ – Ihre Worte noch vom Frühjahr 2022 – als dass es Putin in seinen Aggressionen zusätzlich ermutigte und zwar in seinem Kalkül, dass die Deutschen, ansonsten Weltmeister im Moralisieren, das lukrative Geschäft schon nicht sausen lassen würden, Ukraine hin oder her. Und wiederum war mit beträchtlicher Arroganz überhört worden, wie hellsichtig in Osteuropa gewarnt wurde. Und es ist auch das bedrohte Osteuropa, das die Folgen zu tragen hat – in der nächsten Zeit überdies womöglich sogar ohne amerikanischen Beistand.“

Eine reflektierende Schilderung des denkwürdigen Tags im Schloss Bellevue findet sich in Marko Martins neuem, im Tropen Verlag erschienenen Essayband „Freiheitsaufgaben“.

Marko Martin ist 1970 in der DDR, im sächsischen Burgstädt, geboren, die Eltern sind bekennende Zeugen Jehovas. Er ist Kriegsdiensttotalverweigerer und erfährt hierdurch die volle Härte des kommunistischen Systems. Mit den Eltern immigriert er kurz vor dem Fall der Mauer in den Westen. Die Martins ziehen nach Singen, der Arbeiterstadt am Fuße des Hohentwiel, wo Marko am Hegau-Gymnasium das Abitur macht. Nach dem Studium an der TU Berlin und einigen Jahren in Paris lebt der Schriftsteller und Publizist heute in Berlin.

Neben klaren, oft zugespitzten Statements zur aktuellen politischen Lage in Deutschland und Europa, in welchen nicht nur der amtierende Bundespräsident in einem ungünstigen Licht erscheint, und neben der kritischen Analyse einer spezifisch deutschen, vor allem ostdeutschen Befindlichkeit, ist „Freiheitsaufgaben“ auch ein Notat über die vielfältigen Begegnungen, die Martin im Lauf der Jahre in Frankreich und Deutschland hatte.

So berichtet er von ihm nahestehenden Persönlichkeiten wie dem polnischen Publizisten Adam Michnik, dem französischen Philosophen André Glucksmann, dem deutschen Lyriker und Bürgerrechtler Jürgen Fuchs und dem deutsch-jüdischen Journalisten Ralph Giordano, zudem von prägenden Lektüreerfahrungen, insbesondere mit den Werken Albert Camus‘ und Manès Sperbers. Immer wieder wird der Text auf assoziative Weise durchsetzt mit Passagen, die von unmittelbaren und sehr persönlichen Erlebnissen mit unbekannten Zeitgenossen handeln, sei es in Szenelokal über den Dächern von Barcelona oder bei Lesungen in der ostdeutschen Provinz.

Das Buch ist ein Pamphlet gegen den Totalitarismus jeder Couleur und gegen die Nivellierung historischer Wahrheiten in Form manifester, west- wie ostdeutscher Lebenslügen, es widmet sich der Demaskierung des bräsigen, die Debatte um den russischen Krieg gegen die Ukraine und die Kenntlichmachung von Täter und Opfer wie Mehltau überziehenden Pazifismus, und es formuliert – in Anlehnung an Camus – ein Bekenntnis für einen kontinuierlichen, niemals abreißenden Kampf um die Freiheit des Einzelnen wie der Nationen, vor allem im Osten Europas.

Es geht in „Freiheitsaufgaben“ um Mut vor Fürstenthronen so gut wie um den Mut in einer angesichts der Herausforderungen der Zeit verzagenden und ausdauernd klagenden Zivilgesellschaft – auch wenn Marko Martin Ersteres in Bezug auf den Steinmeier-Clash von sich weist.

Der Berliner Schriftstellerkollege Michael Kleeberg porträtierte vor Kurzem anlässlich der Verleihung des Ovid-Preises 2025 am 23. Oktober in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt am Main in seiner Laudatio Marko Martin wie folgt: Er sei

„(d)as Gegenteil eines intellektuellen Duckmäusers, gesegnet mit einer Frechheit, die den Kaiser, dessen Kleidern die anderen huldigten, in all seiner Nacktheit erblickte. Respektvoll gegenüber jeder Manifestation von Zivilcourage, aufrechtem Gehen und Einstehen für Freiheitsrechte. Und jemand, der auch der Überzeugung anhing, daß man über alles lachen darf, es aber nicht mit jedem kann.“

Alles andere als duckmäuserisch in jedem Fall die Antwort Marko Martins auf die höchst verärgerte Vorhaltung des Bundespräsidenten, der Redner sei schließlich Gast im Schloss Bellevue:

„Sie aber auch!“


Marko Martins Rede auf Youtube: https://youtu.be/i_zuOS3djT8?si=Lwk5-lsdOFR

Marko Martins Rede im Wortlaut:

Peter Conzelmann, Schmitteinander, Folge 3

Marko Martin, Freiheitsaufgaben, Tropen Verlag, Stuttgart 2025, ISBN 978-3-608-50286-2

Zu guter Letzt eine weiterführende Empfehlung, die ich von Michael Kleeberg erhalten habe und hiermit gerne weitergebe:

Marko Martin, Dissidentisches Denken – Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters, Die andere Bibliothek im Aufbau Verlag, Berlin 2019, ISBN 978-3-8477-0415-7

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