Scheitert die Große Koalition?
Die letzte parlamentarisch legitimierte Regierung der Weimarer Republik ging als sogenanntes „Kabinett Müller II“ in die Geschichte ein. Seine für die damaligen, politische wie wirtschaftlich sehr instabilen Verhältnisse relativ lange Regierungszeit dauerte vom 28. Juni 1928 bis zum 27. März 1930. Es war die zweite Große Koalition aus einer linken und mehreren bürgerlichen Parteien: sie bestand, neben der SPD, aus dem katholisch-konservativen Zentrum (Vorgänger der CDU), der BVP (Bayerische Volkspartei) sowie der nationalliberalen DVP (Deutsche Volkspartei) und der linksliberalen DDP (Deutsche Demokratische Partei), beides Vorgängerinnen der FDP.
Die Benennung des Kabinetts erfolgte nach dem Reichskanzler, dem in Mannheim gebürtigen Sozialdemokraten Hermann Müller (1876 bis 1931). Bemerkenswert ist, dass diese Koalition zwar einige außenpolitische Erfolge erzielen konnte, insbesondere im Zusammenhang mit den durch den Versailler Vertrag auferlegten, von der deutschen Bevölkerung weitgehend als hart und ungerecht empfundenen Reparationszahlungen, aber an innenpolitischen Differenzen zerbrach.
Grund für das Scheitern des „Kabinetts Müller II“ im März 1930 war letzten Endes, dass die Fraktion der SPD sich bezüglich der Reform der Arbeitslosenversicherung, einem nicht gerade zentralen Punkt auf der politischen Agenda, einem Kompromiss verweigerte, auf den sich die anderen Koalitionsparteien bereits geeinigt hatten. Müller trat daraufhin zurück.
Was danach kam, waren – beginnend mit dem „Kabinett Brüning I“ – autoritär geführte und agierende Präsidialkabinette, die ihre Macht auf den per Notverordnungen durchgreifenden Reichspräsidenten Hindenburg und somit nicht mehr auf das Parlament stützen konnten. Aus diesem Grund und auch angesichts der zunehmenden Wahlerfolge der rechtsextremistischen NSDAP stand die in parlamentarisch-demokratischer Hinsicht schwach ausgeprägte Weimarer Republik vor dem Aus. Sie endete 1933 mit der „Machtergreifung“ durch Adolf Hitler.
Die Parallelen zur aktuellen Lage der, trotz der Schwäche der bei rund 15% Zustimmung verharrenden SPD, so genannten „Großen Koalition“ unter Kanzler Friedrich Merz sind kaum zu übersehen. Diesmal steht ein erbitterter Streit um die dringend notwendige Reform der Rentenversicherung im Zentrum. Streitpunkte sind die von der SPD angestrebte „Haltelinie“ für das Rentenniveau, die von der CSU durchgedrückte „Mütterrente“ sowie die von der CDU promotete, arbeitswillige Rentner steuerlich begünstigende „Aktivrente“.
Die Koalitionäre haben sich, basierend auf dem Koalitionsvertrag, auf einen Kompromiss geeinigt. Dieser stößt nun auf einen relativ breiten Widerstand innerhalb der CDU, vor allem in der Jungen Union, wie zuletzt auf deren Kongress in Rust demonstriert. Die SPD zeigt dagegen keine Neigung, das beschlossene Reformpaket noch einmal aufzuschnüren. Inzwischen ist auch die Kritik aus Richtung einiger Wirtschaftsverbände und von Wirtschaftswissenschaftlern gewachsen.
Es sieht danach aus, dass die Rentenreform platzt und sich das „Kabinett Merz“ damit in eine politische Patt-Situation manövriert, hinein in einen Stillstand, aus dem die beiden Parteien, so ist zu befürchten, nicht herausfinden werden oder ohne massiven Gesichtsverlust nicht herausfinden können. Damit entsteht die Möglichkeit eines vorzeitigen Scheiterns der aktuellen „Großen Koalition“, die damit schneller zu Ende gekommen wäre als die vorangegangene „Ampel-Regierung“. Neuwahlen wären die Folge.
Vor dem Hintergrund schlechter Umfragewerte für das aktuell regierende Personal, mit Ausnahme des Verteidigungsministers, und dem seit Jahren andauernden schleichenden Niedergang der einstmaligen „Volksparteien“ SPD und CDU, zeichnet sich dadurch die Gefahr einer Regierungsbeteiligung der laut einigen Umfragen zur stärksten politischen Kraft, vor allem in weiten Teilen Ostdeutschlands, gewordenen AfD ab. Mindestens müsste mit einer politischen Gemengelage gerechnet werden, in welcher die AfD die Parteien der Mitte programmatisch vor sich hertreibt, eine Situation, die aktuell in Großbritannien angesichts der Erfolge der Partei Reform UK eines Nigel Farage zu beobachten ist.
Damit würden auch bei uns der Weg bereitet für eine, wie es Jürgen Habermas jüngst prognostizierte, „demokratisch legitimierte Abwicklung“ der bisher gewohnten Form der Demokratie pluraler und liberaler Prägung hin zum Aufbau einer, dies die Habermas’sche Vermutung, „technokratisch verwalteten libertär-kapitalistischen Herrschaftsform“ beziehungsweise in Richtung eines anti-liberalen, oligarchisch geprägten und autoritären Systems nach der Façon eines Victor Orban, Donald Trump oder Wladimir Putin.
Keine Frage: Die Weimar Republik unterscheidet sich in vielem von der Berliner Republik, die Rahmenbedingungen waren zu Beginn der 1930er Jahre deutlich schlechter. Die Berliner Koalitionäre sowie die Akteure der aktuellen innenpolitischen Debatten sollten sich dennoch der Gefahr eines Scheiterns der aktuellen Regierung und der daraus entstehenden Folgen bewusst sein.
Jürgen Habermas, Kann sich die EU dem autoritären Sog der USA noch entziehen?, Süddeutsche Zeitung, 22.11.2025
Abbildung: Das Kabinett Müller II, aufgenommen im Juni 1928 nach seiner ersten Sitzung (Quelle: Deutsches Bundesarchiv)
Stehend von links:
- Dietrich, Hermann Robert Dr.: Reichsfinanzminister, DDP
- Hilferding, Rudolf Dr.: Reichsfinanzminister, SPD
- Curtius, Julius Dr. jur.: Reichsaußenminister, Reichswirtschaftsminister, DVP
- Severing, Carl Dr. : Innenminister, SPD
- Guérard, Theodor von Dr.: Reichsjustizminister, Reichsverkehrsminister, Zentrum
- Schätzel, Georg Dr.: Reichspostminister, BVP
Sitzend von links:
- Koch-Weser, Erich: Reichsminister des Innern, Reichsjustizminister, DDP
- Müller, Hermann Dr.: Reichskanzler, SPD
- Groener, Wilhelm Dr.: Reichswehrminister, parteilos
- Wissel, Rudolf Dr.: Reichsarbeitsminister, Reichswirtschaftsminister, SPD