Dokument des Epochenbruchs: Die neue Nationale Sicherheitsstrategie der USA
Mit der vor kurzem vom Weißen Haus veröffentlichten, neuen „Nationalen Sicherheitsstrategie“ (NSS) der USA offenbart sich den Europäern, dass der Epochenbruch keine Fiktion, sondern Tatsache geworden ist. Die Welt, in der wir leben, ist definitiv eine andere geworden.
Die meisten Europäer haben noch Zeiten erlebt, in denen die Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion, von vielen vulgo „Amerika“ und „Russland“ genannt, die maßgebliche, globale politische Konstante war. Beide Staaten waren auf weltpolitischer Ebene Antagonisten, Hegemonen in ihrer jeweiligen Hemisphäre, ideologisch strengst voneinander geschieden. Das Denken in Blöcken, einem „freiheitlichen“ oder „kapitalistischen“ auf der einen, einem „sozialistischen“ oder „kommunistischen“ auf der anderen, durchzog alle Lebensbereiche, von der großen Ökonomie bis in den privaten Alltag und in die Massenkultur.
Es schien unausdenklich, dass diese Konfrontation, die in der Form des sogenannten „Kalten Krieges“ durchaus bedrohliche Situationen heraufbeschwören konnte (Bau der Berliner Mauer, Kuba-Krise, militärische Intervention des Warschauer Paktes in der Tschechoslowakei), paradoxerweise aber aufgrund ihrer Berechenbarkeit auch eine gewisse Sicherheit versprach, je enden könnte.
Denn die Welt, wie sie sich bei Ausgang des Zweiten Weltkriegs darstellte, zeichnete sich aus durch die Aufteilung unter zwei Supermächte, die so genannt wurden, weil sie an Landmasse und Bevölkerungszahl und somit ein ökonomischem Gewicht, außerdem an technischem (Beherrschung des Welttraums) und militärischem Potential (atomare Hochrüstung) den anderen Mächten, allen voran den ehemaligen Weltkriegs-Alliierten und sich mit ihren zerfallenden Imperien aufreibenden Großbritannien und Frankreich überlegen waren. Die schiere Kraft dieser beiden Supermächte schien unerschöpflich, der Europa teilende „Eiserne Vorhang“ endgültig zu sein.
Der vor allem ökonomisch getriebene Niedergang und schließlich die Auflösung der Sowjetunion schien ein völlig neues, für viele Beobachter ein besseres Zeitalter zu eröffnen. Nicht nur ein forsch argumentierender US-amerikanischer Politologe namens Francis Fukuyama erkannte in den Vorgängen ein „Ende der Geschichte“. Der „freie Westen“ habe gesiegt, mit dem „Wind of Change“ werde nun die gesamte Welt sich an dessen Maßstäben orientieren, etwas, das die liberale Mitte lebhaft begrüßte, an das sich die im Westen beheimatete politische Linke jedoch, wenn überhaupt, dann nur sehr schwer gewöhnen konnte. Mit dem Kampf gegen Globalisierung und Klimawandel entdeckte sie neue Gefechtsfelder.
Es ist anders gekommen, wie wir inzwischen wissen. Es gab keinen globalen Siegeszug des westlichen Kapitalismus im Rahmen offener Gesellschaften und flankiert von liberalen Grundrechten. Und das, was wir, weitgehend im Konsens, als unsere „liberalen Grundwerte“ (Gewaltenteilung, Meinungsfreiheit, Schutz der Menschenwürde) bezeichnen, ist massiv unter Druck geraten, der Zusammenhalt der Gesellschaften erodiert nach innen und nach außen.
Drei Faktoren ragen dabei heraus:
1. Das Anwachsen rechtspopulistischer bis rechtsextremer politischer Strömungen, zuletzt erheblich stimuliert durch die anwachsenden Flüchtlingsströme aus den globalen Krisengebieten oder der ehemals so genannten „Dritten Welt;
2. Der rasante ökonomische Erfolg des autoritären, chinesischen Staatskapitalismus, der sich nicht an soziale Standards des Westens hält;
3. Die Reconquista des oligarchischen und durch die Diktatur Wladimir Putins geprägten Russlands, das seine verlorengegangene Einflusssphäre aus Sowjetzeiten wieder herstellen möchte und hierbei vor keinem noch so brutalen militärischen Einsatz zurückschreckt.
Nach dieser großen, spätestens mit der 2014 erfolgten Annexion der Krim durch Russland einsetzenden Desillusionierung, die die Gemeinschaft der liberalen und demokratischen Staaten, zumal in Europa, genauso merkwürdig passiv hingenommen hat wie die Erfolge der Rechtspopulisten nach 2015, wird mit der Vorlage der NSS der bisher befürchtete oder gemutmaßte Epochenbruch vollends offensichtlich.
Alle seriösen Interpreten dieses aktuellen Papiers sind sich darin einig, dass der derzeitige US-Präsident Donald Trump und seine Kamarilla in Europa den Hauptgegner sehen. Statt auf die Kriegshandlungen und vor allem Kriegsverbrechen Russlands sowie die latente Bedrohung des pazifischen Raums durch China einzugehen, ergeht sich die NSS vorwiegend in Vorwürfen an die Adresse europäischer Staaten. Dort werde vor allem die Meinungsfreiheit eingeschränkt und aufgrund der offenen Grenzen die (christliche) Kultur bedroht, die in absehbarer Zeit unterzugehen drohe.
Die bekannte US-amerikanische Historikerin Anne Applebaum und Trump-Kritikerin hat die Dinge in einem Essay für die Zeitschrift „The Atlantic“ auf den Punkt gebracht. Schon im Titel ihres Essays bezeichnet sie die neue NSS als „Suicide Note“, was man gemäßigt als „Abschiedsbrief“, wortwörtlich jedoch als „Selbstmordbrief“ übersetzen könnte, denn:
„Sollten die darin enthaltenen Ideen tatsächlich zur Gestaltung der Politik genutzt werden, wird der Einfluss der USA in der Welt rapide schwinden und Amerikas Fähigkeit, sich selbst und seine Verbündeten zu verteidigen, abnehmen. Die Folgen werden sowohl wirtschaftlicher als auch politischer Natur sein und alle Amerikaner betreffen.“
Applebaum markiert damit eine doppelte Bedeutung dieses Dokuments: Der „Abschied“ betrifft all diejenigen Länder, mit den die USA im letzten Jahrhundert in enger Verbindung stand, der „Selbstmord“ hingegen spricht die Auswirkungen auf das eigene Land an. Sie hebt außerdem den Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Trump-Regierung hervor, wenn sie verdeutlicht, dass es die vormals klar identifizierten Gegner der USA, insbesondere Russland, Nordkorea und China, nicht mehr als solche genannt werden, als ob es sie nicht mehr gäbe. Sie unterstreicht:
„Dies stellt eine deutliche Abkehr von der ersten Trump-Administration dar. Die Nationale Sicherheitsstrategie von 2017 sprach von der Bildung eines Bündnisses gegen Nordkorea; stellte fest, dass Russland „subversive Maßnahmen einsetzt, um die Glaubwürdigkeit des amerikanischen Engagements für Europa zu schwächen, die transatlantische Einheit zu untergraben und europäische Institutionen und Regierungen zu schwächen“; und bemerkte, dass China „wirtschaftliche Anreize und Strafmaßnahmen, Einflussoperationen und implizite militärische Drohungen“ einsetzt, um andere einzuschüchtern. Das Trump-Politikteam von 2017 stellte außerdem einen „geopolitischen Wettbewerb zwischen freien und repressiven Visionen der Weltordnung“ fest. (…) Ein Jahrzehnt russischer Cyberkriegsführung, politischer Intervention und Informationskriegsführung innerhalb der Vereinigten Staaten wird verschwiegen. Russische Sabotageakte in ganz Europa, russische Unterstützung für brutale Regime in der Sahelzone Afrikas und natürlich Russlands Invasion in der Ukraine spielen ebenfalls keine Rolle. Keiner dieser russischen Aggressionsakte wird erwähnt, außer dem Krieg in der Ukraine, der lediglich als Sorge der Europäer dargestellt wird.“
Genauso wenig, hält Applebaum fest, werden die konkreten und offensichtlichen Bedrohungen der USA durch China, Nordkorea oder den islamistischen Terrorismus beim Namen genannt. Daraus schließt Applebaum
„Wenn Amerika jedoch keine Rivalen hat und keine Konflikte erwartet, müssen weder das Militär noch das Außenministerium, die CIA oder die Spionageabwehr des FBI besondere Vorkehrungen treffen, um die Amerikaner zu schützen. Das Dokument spiegelt diese Annahme wider und weist den nationalen Sicherheitsapparat der USA stattdessen an, über „Kontrolle unserer Grenzen“, „Naturkatastrophen“, „unfaire Handelspraktiken“, „Arbeitsplatzvernichtung und Deindustrialisierung“ sowie andere Bedrohungen des Handels nachzudenken.“
Die neue NSS kenne also keine unmittelbaren Rivalen. Aber sie beschreibe dennoch einen Gegner, mehr noch, eine feindliche Ideologie. Der Knackpunkt:
„Es ist nicht der chinesische Kommunismus, die russische Autokratie oder der islamische Extremismus, sondern die europäische liberale Demokratie.“
Das sei es, was Trump und seine Gefolgschaft vor allem anderen fürchten: Menschen, die über Transparenz, Rechenschaftspflicht, Bürgerrechte und Rechtsstaatlichkeit sprechen. Dieser Gegner zeige sich Trump und der MAGA-Bewegung im Innern wie von außen:
„Nicht zufällig sind dies dieselben Menschen, (…), die dagegen ankämpfen, dass MAGA die Vereinigten Staaten in einen weißen Ethnostaat umwandelt, die sich der Korruption der amerikanischen demokratischen Institutionen widersetzen und die Einspruch erheben, wenn Trumps Freunde, Familie und Verbündete aus der Technologiebranche die US-Außenpolitik zu ihren Gunsten lenken.“
Der Gegner, den die neue NSS besonders ins Visier nimmt, ist die liberale Demokratie in Europa. Deren Autoren plädieren daher dafür, im Gegensatz zu der ansonsten geltenden Maxime, sich nirgendwo sonst auf der Welt in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einmischen zu wollen,
„‚Europa zu helfen, seinen aktuellen Kurs zu korrigieren‘, eine Formulierung, die impliziert, dass die USA eingreifen werden.
Vor allem mit der aktiven Unterstützung rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien und Gruppierungen in Europa, von Victor Orbans Ungarn und der neofaschistischen italienischen Ministerpräsidentin Georgia Meloni über die deutsche AfD bis zu Nigel Farages Neugründung Reform UK. Oder durch die Bekämpfung europäischer Rechtsprechung, wenn es um den Zugang US-amerikanischer Social-Media-Unternehmen nach Europa geht.
Keine Frage, dass auch die Europäische Union als solche sich im Fadenkreuz der neudefinierten US-amerikanischen Sicherheitsinteressen befindet. Dabei gehen die Formulierungen in Bezug auf die globalen Migrationsbewegungen stellenweise sogar über die Positionen der europäischen Rechten hinaus. Applebaum konstatiert:
„Die Sicherheitsstrategie spricht, seltsamerweise, auch davon, dass Europa am Rande der „Auslöschung der Zivilisation“ stehe – eine Sprache, die von vielen europäischen Politikern, selbst solchen in rechtsextremen Parteien, nicht verwendet wird. Carl Bildt, der ehemalige schwedische Ministerpräsident und Außenminister, bezeichnete diese Haltung als ‚rechts von der extremen Rechten‘“.
Vielleicht dient es zur Beruhigung, wenn Applebaum analysiert:
„Die in dem Dokument geäußerten Ansichten repräsentieren weder die der gesamten US-Regierung noch die der gesamten Republikanischen Partei oder gar der gesamten Trump-Administration. Die bemerkenswertesten Elemente des Textes scheinen von einer bestimmten ideologischen Gruppierung zu stammen, die derzeit das außenpolitische Denken dieser Regierung dominiert und dies möglicherweise auch in Zukunft tun wird.“
Folgt man Applebaums Gedankengang, so könnte die neue NSS hauptsächlich nach innen, das heißt an die MAGA-Bewegung adressiert sein. In dieser rumort es in letzter Zeit erheblich. Folglich müssen Trump und vor allem seine Chef-Ideologen darum bemüht sein, das Feindbild vom die Zivilisation zerstörenden Liberalismus lebendig zu halten. Und wer bietet da ein besseres Bild, als die je schon den biederen US-Bürgern affektiert und durch und durch „liberal“ (im US-amerikanischen Sprachgebrauch gleichbedeutend mit „links“) vorkommenden Europäern?
Applebaum wägt final noch einmal ab:
„Einige Elemente dieser Geschichte kommen einem bekannt vor. Die Amerikaner haben ihre Rivalen schon früher überschätzt, unterschätzt oder missverstanden. Und wenn sie das tun, begehen sie verheerende Fehler. 2003 glaubten viele amerikanische Analysten ernsthaft, Saddam Hussein besäße Massenvernichtungswaffen. Während des Kalten Krieges hielten viele Analysten die Sowjetunion für stärker und weniger zerbrechlich, als sie sich später erwies.
Doch ich bin mir nicht sicher, ob es jemals einen vergleichbaren Moment gab, in dem die prominentesten außenpolitischen Theoretiker der amerikanischen Regierung ihre innenpolitischen Obsessionen auf die Außenwelt projiziert und ihre eigenen Ängste auf andere übertragen haben. Infolgedessen werden sie wahrscheinlich falsch einschätzen, wer die Vereinigten Staaten in naher Zukunft herausfordern, bedrohen oder gar schädigen könnte. Ihre Fantasiewelt gefährdet uns alle.”
Ob es sich indessen allein oder vorwiegend um Projektionen von innen nach außen oder um pure Fantasiegebilde handelt, muss bezweifelt werden. Dafür spielen die USA in letzter Zeit zu sehr aktiv am „multipolaren“, oder nennen wir es klassisch: am imperialistischen Poker-Tisch mit, an welchem die Welt im Sinne der Carl Schmitt’schem Großraum-Theorie neu aufgeteilt werden soll. Dafür ist auch zu viel eiskalte Berechnung in den diversen Chefetagen im Spiel, dafür geht es zu sehr um handfeste ökonomische Interessen.
Ganz konkret und aktuell sind jedenfalls die Bestrebungen der US-Regierung, in Lateinamerika die Oberhand zu bekommen. Dabei werden militärische Aktionen wie gegen Venezuela, dessen reiche Öl-Vorkommen die US-Amerikaner gerne in Besitz nehmen würden, explizit nicht ausgeschlossen. Auch das rohstoffreiche Grönland steht nach wie vor auf Trumps Wunschliste, nachdem er – sehr zum Ärger der dänischen Regierung – vor wenigen Tagen mit dem republikanischen Gouverneur von Louisiana Jeff Landry einen „Sondergesandten“ für dieses Thema ernannt hat. O-Ton Trump: Der „großartige Gouverneur“ verstehe, „wie wichtig Grönland für unsere nationale Sicherheit ist, und er wird sich mit Nachdruck für die Interessen unseres Landes einsetzen“. Völkerrechtliche Standards, das wird einmal mehr deutlich, spielen für die heutigen USA keinerlei Rolle mehr.
Die neue NSS ist mehr als nur der Reflex auf die Verwerfungen innerhalb der MAGA-Bewegung. Sie ist nicht weniger als der Plan, auf dessen Basis die USA eine neue Weltordnung errichten wollen. Es ist zwingend, dass die Europäer für sich und für die Zukunft der liberalen Demokratie eine Antwort auf diesen Epochenbruch finden.
The White House, National Security Strategy: https://www.whitehouse.gov/wp-content/uploads/2025/12/2025-National-Security-Strategy.pdf
Francis Fukuyama, Das Ende der Geschichte. Kindler Verlag, München 1992, bzw. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 2022. ISBN 978-3-455-01495-2.
Hardy Ostry, Maša Ocvirk, Die neue nationale Sicherheitsstrategie der USA. Konrad Adenauer Stiftung: https://www.kas.de/de/laenderberichte/detail/-/content/die-neue-nationale-sicherheitsstrategie-der-usa-2
Trumps neue Sicherheitsstrategie – die nächste Zeitenwende für Europa? NDR: https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/caren-miosga/rueckschau/trumps-neue-sicherheitsstrategie-die-naechste-zeitenwende-fuer-europa,miosga-sendung-228.html
Sicherheitsstrategie der USA – Eine zweite Zeitenwende für Europa? Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/usa-sicherheitsstrategie-europa-eu-nato-russland-100.html
Clemens Verenkotte, Die neue US-Sicherheitsstrategie – 33 Seiten Trump pur. BR: https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/die-neue-us-sicherheitsstrategie-33-seiten-trump-pur,V4mvbtM
Anne Applebaum, The Longest Suicide Note in American History – The Trump administration’s new National Security Strategy targets liberal democracy itself. The Atlantic, 16.12.2025. https://www.theatlantic.com/ideas/2025/12/national-security-strategy-democracy/685270/