Auch der Aggressor ist schwach

Ernst Köhler

1.

Kaum einer, der sich als verantwortlicher Staatsbürger versteht – und sich nicht doch vom Übermaß der Gefahren, Fronten und Abgründe in unserer Zeit erdrückt fühlte. Dabei kann gerade der Blick auf die überkomplexe Gesamtlage einen Rückhalt bieten, das Urteil erleichtern und die Zunge lösen. Versuchen wir es hier als Lockerungsübung einmal mit dem Thema der Konfrontation Europas und Russlands, die alles verdüstert. Eines wenig vorbereiteten Europas, ohne das vertraute Bündnis mit den USA .und eines Russlands in neuer, begieriger und anscheinend unerschöpflicher Zusammenarbeit jedenfalls mit einigen einflussreichen Amerikanern.

Wollte man hier die Gesamtlage willkürlich zerlegen, sie auseinanderreißen und das verunsicherte, schon gar desorientierte Europa immer nur isoliert für sich betrachten, produziert man unweigerlich einen Kurzschluss und Zerrbilder. Wie jetzt der nicht zu Unrecht vielbeachtete Schweizer Analyst Marcus M. Keupp („Militärökonom“) in seinem Buch „Spurenwechsel. Die neue Weltordnung nach Russlands Krieg“ (Köln, 2025):

Das langjährige Appeasement Deutschlands und Westeuropas gegenüber dem aggressiven Expansionismus Putins sieht sich kaum irgendwo hellsichtiger auseinandergenommen und in ihrer verheerenden Tragweite vor allem für Osteuropa ausgelotet. Über das gegenwärtige Russland heißt es dann aber:

„Die imperiale Ideenwelt hat die Auflösung der Sowjetunion genauso unbeschadet überstanden wie diejenige des Zarenreichs. Erneut strebt sie nach globaler Dominanz. Mit ihr, nicht mit der Person Putin, findet die weltanschauliche und welthistorische Auseinandersetzung statt. In Russland ist sie unsterblich, tief in den nationalen Mythen und Selbstbildern verwurzelt. Sie findet stets neue personelle Träger, ganz unabhängig vom politischen System oder dem jeweiligen Herrscher. Ob unter den Zaren, in der Sowjetunion oder in der Russländischen Föderation – stets zeigt sich dieser expansive Zug, der nach Einfluss und Kontrolle strebt. Und selbst ein innerlich zerfallendes Russland wird von vergangener Größe träumen.

Die imperiale Idee ist geradezu der Kitt, der die Brüche in der russischen Geschichte verbindet: Zaren, Parteichefs, Präsidenten mögen kommen und gehen, politische Systeme sich verändern – sie aber ist die allumfassenden Klammer, die den zeithistorischen Sekundenzeiger überdauert.“ (Vgl. Spurenwechsel, S. 234 f.)

Das ist jedenfalls nicht das reale Putin-Regime. Er ist nur das, was es Europa und der Welt über sich zu erzählen versucht. Und auch der eigenen Bevölkerung aufzwingt, wer öffentlich widerspricht, riskiert seine Existenz. Es ist die Geschichtspolitik, die Scheinwelt, der ideologische Müll der Diktatur, einer inzwischen schon totalitären Tyrannei, die sich hier zur zeitübergreifenden, authentischen Ideengeschichte einer jahrhundertealten Staatsräson verzaubert sieht. Es ist fast, als hätte den Verfasser seine eigene geschliffene Sprache des Zorns und der Betroffenheit über dieses so verblendete, kulturell so verwahrloste, dem Freiheitsgedanken dermaßen tief und anhaltend entfremdete Europa dazu verführt. den Antipoden, den Feind so groß zu machen und ihn in höheren, spirituellen Sphären anzusiedeln.

2.

Das ganze Unverständnis für das Phänomen Putin enthüllt sich hier in ein paar Worten: „Putins Tragik liegt letztlich darin, dass er sich nicht von diesen imperialen Ordnungsvorstellungen lösen konnte. Für ihn existiert eine ukrainische Nation nicht, er kann in der Ukraine nichts anderes sehen als eine Kolonie…“ (Vgl. a.a.O., S. 243) Das ist nur absurd, ganz im Gegenteil: er kann es sehr wohl. Er versteht die ganze Tragweite der Demokratisierung des Nachbarlandes. Er weiß, dass er in einer solchen Welt keinen Platz mehr haben wird. Er fürchtet diese Entwicklung über alles und bekämpft sie auf Leben und Tod, weil er sie versteht. Er ist in allem – in seinen Motiven, in seinen Interessen, in seinem Handeln das polare, antagonistische Produkt der gleichen Zeit, desselben Epochenbruchs. Von Anfang seiner politischen Karriere an, schon in seiner Zeit in Dresden.

Wie jetzt eine bahnbrechende Studie über das Schicksal Georgiens aufzeigt und im Detail dokumentiert, ist das System Putin kein Phänomen aus der Tiefe der russischen Geschichte, sondern unserer Gegenwart, der laufenden Zeitenwende im postsowjetischen Raum: Gesine Dornblüth, Thomas Franke, „Kampf um die Freiheit. Georgien und der lange Arm des Kreml“ (Freiburg im Breisgau, 2025, Herder Verlag)

Auch in diesem „Testgelände“ gelten die Angriffe und die Einflussnahmen Russlands wieder der Abwehr, dem Widerstand gegen das Schwinden und den drohenden Verlust der eigenen Macht: der Zerstörung der demokratischen Zukunft dieses Landes, wie sie von der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung unübersehbar und beharrlich gewollt ist. So paradox es in deutschen Ohren auch klingen mag: es sind Rückzugsgefechte auf bereits weitgehend verlorenem Posten. Auf dem wie immer gewundenen Weg in das Scheitern. Das Wrack der Großmacht ist in Sicht. Unsererseits einmal ein Anlass für Beistand und Loyalität mit den Angegriffenen, statt für das gewohnte Wegschauen oder gar ein angstgetriebenes Wegducken:

„Nach dem Augustkrieg (2008, E.K.) zeigt Russland Georgien noch einmal den Mittelfinger, indem er Südossetien und Abchasien als unabhängige Staaten anerkennt. Für Russland hat der Angriff auf Georgien keine Konsequenzen. Die USA und Russland wollen ihr Verhältnis verbessern. Im Frühjahr 2009 drücken der russische Außenminister Sergej Lawrow und seine US-amerikanische Kollegin Hillary Clinton in Genf persönlich einen roten Knopf für den Neustart der Beziehungen. Alle Verbrechen und Vertragsverletzungen einfach so weggedrückt. Die andauernde russische Besatzung von Abchasien und Südossetien interessiert nicht.

Putin hat seine Reizfigur Saakaschwili gedemütigt und ein Land, das sich friedlich auf den Weg Richtung Demokratie und EU gemacht hat, bestraft. Sein Plan ist aufgegangen, seine Strategie funktioniert. Russland gibt sich als Opfer einer westlichen Bedrohung, die nicht existiert. Russland behauptet, Menschen vor einem Genozid schützen zu müssen, der nicht stattfindet. Russland greift an, und es hat keine Folgen. Es funktioniert so gut, dass Putin 2014 in der Ukraine erneut nach diesem Muster vorgeht. Auch die Ukraine ist da im Begriff, sich von den korrupten an Moskau orientierten Eliten zu befreien. Wieder ist es das Duo Merkel/Steinmeier, das konsequentes Handeln gegenüber Russland verhindert. Geschäfte mit Russland sind ihnen wichtiger. Putins Motto ist: Wer Demokratie sät, wird Krieg ernten. Russland tut alles, um Demokratiebestrebungen zu sabotieren und Gesellschaften zu zerstören. Und die Bundesregierung hat kräftig mitgeholfen.“ (Vgl. a.a.O., S. 72)

Der Arm des Kreml ist lang. Aber wie stark ist er? Man kann sich ja ansehen, was an tragfähigem, nachhaltigem Machtaufbau er in dem kleinen Land noch zustande bringt:

„In Georgien entsteht derzeit keine Diktatur nach den Mustern des vergangenen Jahrhunderts, in denen es eine Verheißung gab, eine Ideologie und Personenkult. Es ist eine Form von Unterdrückung durch Organisierte Kriminalität gepaart mit den Geheimdienststrukturen der vergangenen Sowjetdiktatur, wiederbelebt von Wladimir Putin und seinen Leuten im Kreml. Wie Mafiaclans bedienen sie sich aller verfügbaren Machtmittel, um ihre Gegner einzuschüchtern oder auszuschalten. Putin geht es darum, Wohlstand, Demokratie und Freiheit in Russlands Nachbarschaft zu verhindern. In Russland soll niemand auf die Idee kommen, es den Nachbarn gleichzutun und eine Freiheitsbewegung zu initiieren. Darüber hinaus geht es darum, Unruhe im Rest der Welt zu schüren, andere Gesellschaften zu schwächen. Es geht um viel Geld und Macht. Schwache Demokratien wie die georgische sind eine leichte Beute.“ (Vgl. a.a.O., S.10)

3.

Satanisch schlau wird man den „Georgischen Traum“, die regierende Partei (und das persönliches Eigentum des Oligarchen Bidsina Iwaninischwili ) nicht gerade nennen: mit ihrer Strategie, dem Land das genaue Gegenteil dessen zu verkünden und zu versprechen, was sie tatsächlich macht: Georgien in die EU zu führen. Mit seiner bizarren Verschwörungstheorie von einer „Partei des Krieges“, die in Europa ihr Unwesen treibe und wie schon die Ukraine auch Georgien gut ins Unglück stürzen könne. Aber die anhaltenden Massenproteste gegen das „russische Gesetz“ (über „ausländische Agenten“) , gegen die Fälschung der Parlamentswahl von 2024, die sich auch mit den zunehmenden, staatlich organisierten Überfällen und Terrorakten gegen einzelne Personen oder kleine Gruppen von Bürgern nicht paralysieren lassen, verlangen von uns etwas anderes als Spott und Verachtung, Und sie verlangen von der EU etwas anderes als schwammige Distanzierung, Abwarten und ein Aussetzen der Beitrittsverhandlungen. Nämlich die klare, weltöffentliche Unterstützung der massiv unterdrückten georgischen Demokratiebewegung. Bleibt sie weiter aus, ist es ein klägliches Versagen. Es wäre das alte, es wäre die Fortsetzung des Versagens von 2008, von 2014, von 2022.

Es gibt in Georgien auch genügend ungebrochene, mutige Stimmen, die genau das von Europa erwarten. Die vielleicht nicht unbedingt darauf bauen, es sind Leute von Erfahrung und Welt. Die bei aller Ernüchterung und Enttäuschung über das demokratische Niveau der EU aber heute von uns einfordern, Georgien in seinem Freiheitskampf „nicht im Stich zu lassen“. Es ist oft gesagt worden, es ist bitter, es sind die eigentlichen Europäer in Europa. Hier einer von ihnen:

Lascha Bakradse, ehemaliger Direktor des Literaturmuseums

„Ich sitze noch nicht im Gefängnis. Meine Konten sind noch nicht eingefroren. Es geht mir also den Umständen entsprechend gut. Ich versuche weiter, den politischen Prozess zu beleben. Ich spreche überall, wohin man mich einlädt, und sage meine Meinung ohne Umschweife: dass die selbst ernannte Regierung Georgiens das Land ins Verderben führt und wie man Widerstand leisten kann. Die Proteste machen den Menschen Mut, dass längst nicht alles verloren ist. Sie zeigen dem Westen (hoffentlich), dass das Volk seine Freiheit und Demokratie nicht aufgeben will. Hoffentlich hilft der Westen mehr als bisher.

Ich sorge mich um die Menschen in den Gefängnissen. Ich sorge mich darum, dass der Georgische Traum alle Institutionen zerstört, die wir mit Mühe aufgebaut haben und die mal mehr, mal weniger funktionieren. Es erscheint zwar alles sehr hoffnungslos, aber ich glaube, dass diejenigen, die die Macht ergriffen haben, nicht lange durchhalten, wenn der Druck von innen und von außen steigt. Ich werde weiter kämpfen und habe nicht vor, das Land zu verlassen.° (Ebenda, S. 247 f.)

4.

Menschen von dieser Unbeugsamkeit sind es auch, die uns ermutigen, wieder nach Russland zu fragen: nach dem russischen Volk selbst, das in seiner umfassenden politischen Unterwerfung im aktuellen deutschen Diskurs schon kein Thema mehr zu sein scheint. Die Unterwerfung – das Wort nun passivisch verstanden als die erlittene Repression oder aktivistisch im Sinne der angeeigneten Ideologie (wie des großrussischen Nationalismus, spätestens seit der Annexion der Krim 2014; wie der Erinnerungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg; wie irgendeiner Version von Kulturimperialismus) – ist doppelt genäht, wirkt vollendet, geschlossen, unveränderlich, und kann so in unserer politischen Publizistik gut realistisch abgehakt werden.

Diese vermeintlich abschließenden Antworten, gern miteinander verquickt und alle auf einmal aufgeboten, unterbrechen sei Jahren russische und belarussische Stimmen im Exil. Und unterbricht jetzt auch Irina Scherbakowa, eine in der ganzen Welt geachtete russische Vorkämpferin der Menschenrechte, in ihrer Autobiographie: „Der Schlüssel würde noch passen. Moskauer Erinnerungen“ (München 2025, Droemer Verlag). Man lernt mit diesem Text wieder ganz von vorne danach zu fragen, was Putin alles zum Schweigen hat bringen müssen, um sich an der Macht zu halten: so die selbst von Memorial in ihren landesweiten zeitgeschichtlichen Jugendwettbewerben nie erwartete massenhafte, eigenständige Teilnahme einfacher russischer Jugendlicher und ihrer Schullehrer in tiefster Provinz: beharrliche Forschungsarbeit für ein anderen Land, für ein Russland der Erinnerung nicht nur an die Katastrophen und Verbrechen der Sowjetunion; für ein Russland der bisher verweigerten öffentlichen, oft auch familiären Wahrnehmung und Anerkennung der Opfer des vergangenen Jahrhunderts. Ist denn heute wieder ganz weg aus dem Bewusstsein der Gesellschaft, was ihr einmal nicht so gegenwärtig war? So vielfältig und ansteckend präsent. Nur weil es ein Machthaber verbietet und ausgrenzt? Wir reden hier vom Aufbau einer politischen Kultur. Was kann Staatsgewalt auf diesem Feld, was kann sie nicht? Was kann eine solche Staatsgewalt, was nicht? Sie beherrscht die Medien, die Schule. Sie kann eine soziale Praxis der popularen Selbstaufklärung auch wieder zerschlagen. Sie kann reihenweise Existenzen vernichten, sie kann Menschen ermorden. Alles ungestraft, wenn auch nicht ohne Preis. Aber kann sie auch eine Gedankenwelt auslöschen? Eine Umkehr im Denken, wie es sich selbst auf dem Land im Alltagsleben der Russen verwurzeln konnte?

*

Je näher der 10. Januar rückte, umso aufgeregter wurden Oxana, meine einzige Helferin bei diesem Projekt, und ich. Über die Feiertage zum Jahreswechsel warf Jelzins Ankündigung seines Nachfolgers einen dunklen Schatten. Am meisten beunruhigte mich, dass viele Putin für eine durchaus gute Wahl hielten oder beschwichtigend meinten, ich solle keine Panik verbreiten, es könne doch keine Rückkehr in die Vergangenheit mehr geben. Meine Befürchtungen über den neuen Mann im Kreml rückten in den Hintergrund als uns Hunderte Einsendungen aus ganz Russland erreichten – es war eine richtige Flut. Die Postboten, die säckeweise Pakete für uns schleppen mussten, begegneten uns mit unverblümten Groll. Es war Mitte Januar, ein kalter schneereicher Winter, und die Pakete waren schwer. Wir beschlossen also, sie selbst mit Schlitten vom Postamt abzuholen, Als die eingereichten Arbeiten die Zahl von anderthalbtausend überschritten, waren wir fassungslos, Was mich am meisten überraschte: ich hatte angenommen, wenn es überhaupt Teilnehmer geben würde, dann kämen sie aus Moskau oder Sankt Petersburg, na ja, vielleicht noch aus ein paar anderen großen Städten. Doch sage und schreibe zwei Drittel der Absender kamen aus Kleinstädten und Dörfern, von denen wir noch nie gehört hatten. Und so sollte es bis zum Schluss bleiben – bis Memorial 2021 liquidiert wurde.

Die ersten Seiten ‚Geschichte‘, die ich aus den Postsäcken zog, werde ich wohl nie vergesse. Die meisten Texte waren handschriftlich verfasst und schwer zu lesen, manche waren auf Schreibmaschinen getippt, die es an den Schulen noch gab, nur sehr wenige am Computer verfasst…Damals ahnte noch niemand, dass dieser Wettbewerb über zwanzig Jahre fortbestehen und sich zum größten Geschichtswettbewerb Europas mausern würde, Dass die insgesamt 40 000 Arbeiten und zigtausend Teilnehmer eine neue Form der Erinnerung bilden würden – eine Geschichte Russlands, wie sie jungen Menschen, die noch die Schulbank drückten, wahrnahmen. Das war Ende 2021 einer der zentralen Vorwürfe, die die Generalstaatsanwaltschaft der Russischen Föderation gegen Memorial erhob und die schließlich zu unserer Liquidierung führten.

(Irina Scherbakowa, Der Schlüssel würde noch passen, S.130 ff.)

Die Jugendlichen leisteten enorme Arbeit, um das wiederherzustellen, was ihre Vorfahren über Jahrzehnte aus dem Familiengedächtnis verdrängt hatten. Zumal die materiellen Spuren sehr dürftig waren, denn was hätten Gulag-Häftlinge, deportierte Bauern und ganz Völker, die im Krieg evakuiert oder zur Zwangsarbeit nach Deutschland verschickt worden waren, schon aufbewahren können, außer ein paar Fotos, Briefe und Urkunden? Was konnte man mitnehmen, was über Zeiten erhalten, wenn man vierundzwanzig Stunden zum hatte, bevor man nach Sibirien deportiert wurde? Nur die Glücklichen hatten Dinge wie eine Nähmaschine von Singer oder ein Kupferkesselchen dabei, die zur Rettung wurden.

Trotzdem war das beharrliche Suchen oft von Erfolg gekrönt: In den Archiven fanden sich Dokumente und Namen, verlorene Verwandte und vergessene Gräber tauchten wieder auf und füllten die Leerstellen. Die Fundstücke waren unterschiedlichster Natur: eine Altgläubige Ikone, mit der die Söhne gesegnet wurden, bevor sie an Front mussten; Texte kalmückischer Volkslieder, die während der Verbannung nicht öffentlich gesungen werden durften, ein Heft mit laienhaften Gedichten, in denen die Urgroßmutter, eine Maschinenheizerin, von ihrem Leben zu erzählen versuchte. All diesen Fundstücken gemein war das Gefühl, dass die Familientradition gewaltsam unterbrochen, die Menschen mitsamt ihren Wurzeln aus ihrem bisherigen Leben herausgerissen worden waren…Die Furcht vor Repressionen hatte dazu geführt, dass die Menschen jahrzehntelang die Ungerechtigkeit und Brutalität verdrängten, zu deren Opfern oder Zeugen sie geworden waren. Als Kinder und Jugendliche in den entlegensten Winkeln des Landes wie Detektive in die Suche nach der Vergangenheit ihrer Familien eintauchten, erinnerten manche ihrer Einsendungen tatsächlich an Ermittlungsergebnisse. Der wichtigste Grund für all die Leichen im Keller, die ihnen entgegenkamen, war die Angst. Und sie war das größte Gespenst. Das Leben ihrer Vorfahren war über Jahrzehnte hinweg von ihrer geprägt gewesen: die Angst hatte sie zum Schweigen verurteilt, hatte sie dazu gebracht, alles von sich abzuschneiden, was dem Lebenslauf schaden und die Behörden Verdacht schöpfen lassen könnte. Die Ermittlungen der Kinder enthielten zahlreiche Beschreibungen gefälschter Dokumente, mit korrigierten Geburtsdaten, veränderten Namen, vertuschten sozialen Zugehörigkeiten und Angehörigen im Ausland. In Datenblättern wurden repressierte Verwandte oder eine Deportation nach Deutschland während des Krieges einfach verschwiegen…Die Jugendlichen, die in den Achtzigern und frühen Neunzigern geboren wurden, schien die stalinistische Epoche der existenziellen Angst vor Repressionen sehr lange her zu sein. Wenn sie diese Vergangenheit beschrieben, suchten sie in den Repressionen und dem Massenterror vergeblich nach Rationalität und irgendwelchen Gesetzmäßigkeiten; die Ereignisse entbehrten jeder Logik und jeden Sinns. Die Opfer in ihren Familienstammbäumen hatten nur selten tatsächlich mit Politik zu tun, in der Regel waren es ganz einfache Leute. Die Frage nach dem „Warum“ wurde so zur Schlüsselfrage.

(Irene Scherbakowa, ebenda, S. 145-147)

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